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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.
1,6 Millionen Frauen und Kinder in Gaza brauchen Waffenruhe
Aufrufe zu einer temporären Waffenruhe haben nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern mit Respekt des humanitären Völkerrechts.
2. November 2023
von Urs P. Gasche
Die Qassam-Brigaden als bewaffneter Arm der Hamas verfügen laut arabischen Medien über etwa 40’000 Kämpfer. Unter der Herrschaft der Hamas leben im Gaza-Streifen 2,2 Millionen Einwohner. Fast drei Viertel von ihnen sind Frauen, Kinder und Jugendliche. Mehrere Tausend Frauen, Kinder und Jugendliche wurden bereits getötet und weitere Tausende schwer verletzt. Hunderttausenden fehlt es an Trinkwasser, Essen und Medizin. Die Kanalisation funktioniert nicht mehr.
«Wenn beide Seiten das humanitäre Völkerrecht nicht beachten, steigt auch die Feindschaft auf beiden Seiten […] Wir dürfen eine absolute Verfeindung bis hin zur Entmenschlichung der anderen Seite nicht in Kauf nehmen», erklärte IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric am 29. Oktober in der «NZZ am Sonntag». Als der UN-Sicherheitsrat am 23. Oktober eine humanitäre Waffenpause ablehnte, habe sie sich «so niedergeschlagen wie selten gefühlt». Die USA, Grossbritannien, Frankreich und Japan stimmten dagegen. Die Schweiz enthielt sich der Stimme.
Am 27. Oktober verabschiedete dann die UN-Generalversammlung eine – wie immer unverbindliche – Resolution für einen sofortigen humanitären Waffenstillstand. Diesmal stimmten die Schweiz und Frankreich dafür, Deutschland enthielt sich der Stimme. Dagegen stimmten Israel, die USA, Österreich und Ungarn. Insgesamt waren 120 Länder dafür, 14 dagegen und 45 enthielten sich der Stimme.
«Die Schweiz als nützlicher Gehilfe der Israel-Gegner»
Darauf titelte die «Sonntags-Zeitung» in grossen Buchstaben: «Schweiz stellt sich auf die Seite der Israel-Kritiker». Redaktor Rico Brandle zitierte Israels Aussenminister Eli Cohen, der die Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand als «verabscheuungswürdig» bezeichnet habe. Israel beabsichtige «die Hamas zu eliminieren», habe Cohen auf X geschrieben, so wie die Welt auch mit den Nazis und dem IS verfahren sei.
In der «NZZ» titelte Katharina Fontana: «Die Schweiz als nützlicher Gehilfe der Israel-Gegner». Israel müsse das Leben seiner Bürger gegen Terroristen verteidigen und kämpfe um seine Existenz: «Da wirkt jeder Aufruf zu einer Waffenruhe so, als würde man das Selbstverteidigungsrecht des Landes infrage stellen.»
Ebenso lehnte auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu jegliche humanitäre Hilfe für die 1,6 Millionen Frauen, Kinder und Jugendlichen ab. Am 30. Oktober sage er an einer Medienkonferenz: Wer eine humanitäre Feuerpause befürworte, wolle, dass sich «Israel der Hamas ausliefert und vor den Terroristen kapituliert». In Gaza müsse «keine einzige Zivilperson sterben», meinte Netanyahu. Wenn doch welche sterben, sei die Hamas schuld, weil sie die Menschen «daran hindert, Konfliktgebiete zu verlassen». Regierungsvertreter wiesen zudem darauf hin, dass die Hamas-Terroristen viel Benzin, Wasser und Nahrungsmittel für sich selber bunkern und diese ja der Bevölkerung verteilen könnten.
IKRK: «Ohne Treibstoff werden Tausende von Verletzten in Spitälern sterben»
Frauen, Kinder und Jugendliche deshalb im Stich zu lassen, ist für das IKRK keine Option. Für das IKRK arbeiten in Gaza noch etwa 140 Leute vor allem für Spitäler. Es sei gelungen, eine grössere Zahl von Kriegschirurgie-Kids nach Gaza zu bringen, sagte IKRK-Präsidentin Spoljaric. Aber es «braucht jetzt Treibstoff, damit nicht Tausende sterben, weil sie nicht behandelt werden können». Auf die Frage, ob die Hamas Spitäler und Bunker unter Spitälern als Kommandozentralen missbrauchten, antwortete Spoljaric: «Darüber liegen uns keine Informationen vor.»
Die Situation sei «unerträglich schlimm»: Noch nie dagewesene Opferzahlen in so kurzer Zeit, eine massive Zerstörung der Infrastruktur, zu wenig Nahrungsmittel und Wasser: «Das Wassersystem ist zusammengebrochen, das Abwassersystem funktioniert nicht mehr.» Es könnten neue Katastrophen wie Cholera entstehen.
«Hätten diese Beamten jemals auch nur einen Tag unter Bombardierung und Beschuss erlebt»Die Kriegsreporterin und langjährige Korrespondentin in Ägypten, Israel und Afghanistan, Megan K. Stack, appellierte am 30. Oktober in der «New York Times» an die Empathie: «Ich habe noch nie erlebt, wie unbarmherzig die Luftangriffe und der Tod sind, welche die Menschen in Gaza jetzt erleiden – Menschen, die zu Hause bei ihren Kindern und Grosseltern angegriffen werden. Menschen, die bereits unter der Blockade lebten und nie eine wirkliche Möglichkeit zur Flucht hatten.»
Beamte des Weissen Hauses würden einwenden, dass ein Waffenstillstand nur der Hamas zugutekäme, und dass die Forderung nach einem Ende der Bombardierungen deshalb «widerwärtig» sei. Stack meinte: «Hätten diese Beamten jemals auch nur einen Tag unter Bombardierung und Beschuss erlebt, könnten sie diesen alptraumhaften Angriff auf Gaza nicht so mühelos und unmissverständlich verteidigen.»
Schon in den ersten Stunden, nachdem die Hamas israelische Zivilisten abgeschlachtet und entführt hatte, sei klar gewesen, dass es für den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu keine Gnade für den Gazastreifen gebe: «Alle Orte, an denen die Hamas stationiert ist, sich versteckt und operiert, werden wir in Schutt und Asche legen», sagte er.
Wenn die Menschen in Gaza nur eine abstrakte Grösse sind, sei es wohl einfacher, sich einzureden, dass die Tötung ihrer Kinder zwar traurig, aber unvermeidlich sei – eine unbeabsichtigte und letztlich verzeihliche Folge des gerechten Strebens einer Nation nach Selbstverteidigung.
Die von der Hamas am 7. Oktober begangenen Gräueltaten gegen israelische Zivilisten seien «schockierend und abscheulich». Der bösartige Angriff, bei dem an einem einzigen Tag mehr Juden getötet wurden als an jedem anderen Tag seit dem Holocaust, schreie nach einer Antwort: «Es kann jedoch keine Antwort sein, die Kinder von Gaza zu töten.»
Das Motiv der RacheNach eigenen Worten der politischen und militärischen Führung Israels werde der Angriff auf Gaza in erster Linie aus reiner Rache durchgeführt. «Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen», warnte Generalmajor Ghassan Alian die Bewohner des Gazastreifens, die er als «menschliche Bestien» bezeichnete.
«Der Gazastreifen wird nicht zu dem zurückkehren, was er vorher war», sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant. «Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.»
«Massenabschlachten führt nicht zum Ziel»
Das Abschlachten sei nicht nur amoralisch, sondern führe auch nicht zum Ziel: «Wenn ich mir die Bilder bedrohlicher Mondlandschaften der zerbombten Häuserblocks im Gazastreifen anschaue, sehe ich die Geburt einer neuen Generation von Kämpfern oder Terroristen. Die Kinder, die diesen Ansturm überleben, werden noch radikalisierter und traumatisierter aufwachsen als die Generationen vor ihnen.»
Megan K. Stack sieht die Wurzeln der palästinensischen Gewalt im politischen Unmut von Generationen von Palästinensern, deren Leben durch die unbefristete militärische Besatzung bestimmt worden sei: «Sie haben keinen Staat, den sie ihr Eigen nennen können, ihre Grundrechte werden systematisch beschnitten, und die Welt hat ihnen wenig Grund gegeben, auf bessere Zeiten zu hoffen. Die palästinensische politische Gewalt ist älter als die Hamas und wird die Hamas in Ermangelung einer politischen Lösung sicher überleben.»
Israel wisse das. Denn Israel habe den Gazastreifen schon einmal erbarmungslos bombardiert, aber die Hamas sei immer noch dort. Israel habe auch Teile des Südlibanon in Schutt und Asche gelegt, aber die Hisbollah sei immer noch da.
«Wir schauen zu, wie sich der Kreislauf erneut dreht, und tun so, als ob er dieses Mal ein anderes Ergebnis hätte», warnt Stack. «Wir geben Israel Geld, um die Waffen zu bezahlen. Dann geben wir den Palästinensern Geld, um für die Schäden zu bezahlen, welche diese Waffen verursachten. Wir tun immer wieder das Gleiche, wiederholen dieselben Sätze, aber die Gewalt wird immer schlimmer.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Urs P. Gasche
… ist Redakteur der Online-Zeitung Infosperber.ch. Der Infosperber konkurriert nicht mit großen Medienportalen, er ergänzt sie. Die Plattform hat sich als Ziel gesetzt, allein nach gesellschaftlicher oder politischer Relevanz zu gewichten. Der Infosperber sieht, was andere übersehen.
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