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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst im Standard und auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.
Wie sich der Sieg der Taliban auf die Welt auswirkt
Der Rückzug der USA aus Afghanistan schafft Raum für andere Akteure und geopolitische Machtspiele.
27. August 2021
von Gudrun Harrer
Der Hegemon will nicht mehr, er nimmt sich aus dem Spiel. Zumindest aus jenem am Hindukusch: Die USA ziehen aus Afghanistan ab, mit ihnen die Nato. Aber was machen jetzt die anderen Spieler: Wie wird eine postamerikanische Ordnung in einer Region aussehen, die stets Angelpunkt geopolitischer Interessen war?
Nicht nur die USA und die Europäerinnen und Europäer, auch die regionalen Staaten wurden offenbar von der rasanten Machtübernahme durch die Taliban überrascht. Aber vielleicht doch etwas weniger. Die Taliban selbst waren in den vergangenen Wochen und Monaten diplomatisch aktiv, Delegationen reisten nach Moskau, Peking und Teheran.
Das unterscheidet die heutigen Taliban – die die USA unter Donald Trump 2018 auf dem Verhandlungsparkett einführten – von jenen, die man Mitte der 1990er-Jahre sah: In die afghanischen Dörfer und Städte mögen teilweise dumpfe Krieger einziehen, aber ihre Führung weiss um den Stellenwert internationaler Beziehungen.
Einstimmiger Beschluss
Noch gilt für die internationale Gemeinschaft offiziell die Resolution 2513 vom März 2020, in der der Uno-Sicherheitsrat die Taliban zwar als Verhandlungspartner der USA und der afghanischen Regierung quasi offiziell akzeptiert, aber feststellt, dass das «Islamische Emirat Afghanistan» nicht anerkannt ist und dass der Uno-Sicherheitsrat dessen «Wiedererrichtung nicht unterstützt».
Die Resolution wurde einstimmig beschlossen, auch von Russland und China. Und doch weiss man, dass der Zug in eine andere Richtung fährt. Wenn die Taliban gewisse Bedingungen erfüllen, werden gewisse Staaten ihre Herrschaft anerkennen.
Allen regionalen und internationalen Akteuren ist eines gemeinsam: Sie wollen nicht, dass der Sieg der Taliban zur Inspiration für islamistische Gruppen wird, genauso, wie es 1989 nach dem Abzug der Sowjets der Fall war. Die direkten Nachbarn fürchten einen physischen Austausch über die Grenzen hinweg: Als die Taliban von 1996 bis 2001 an der Macht waren, haben sie aktiv Extremisten in den Nachbarländern unterstützt.
Gemeinsame Ängste
Kein Nachbarland will, dass der Influx von Flüchtlingen seine oft ohnehin schon prekäre wirtschaftliche und politische Stabilität gefährdet. Alle fürchten, dass Afghanistan wieder zum sicheren Hafen für Terrororganisationen werden könnte, wie früher für Al-Kaida: auch Staaten, aus denen früher Unterstützung für den Jihadismus kam. Diese Zeiten sind vorbei. Und niemand will, dass Afghanistan als Drogenproduzent und -exporteur völlig ausser Kontrolle gerät.
Was hingegen alle wollen: neue wirtschaftliche Räume erschliessen, den strategischen Einfluss ausweiten. Das neue Afghanistan – wie es auch heisst – hält vor allem für Russland und China neue hegemoniale Chancen bereit. Aber auch Risiken. Es bietet Gelegenheit für Kooperation, wenn es darum geht, die USA aus Entscheidungsprozessen draussen zu halten. Es bietet aber auch Anlass für neue Konkurrenz.
Afghanistan hat sechs direkte Nachbarn, von Pakistan mit der längsten Grenze (2670 Kilometer) im Uhrzeigersinn weiter über den Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan bis zu China mit der kürzesten Grenze (76 Kilometer). Auch Russland ist nicht weit – Tadschikistan gehört zu seiner sicherheitspolitischen Einflusssphäre. Doch auch die Türkei hat zentralasiatische Ambitionen, mit Ausnahme der Tadschiken handelt es sich dort meist um Turkvölker.
Aus Pakistan – und mit Unterstützung des Geheimdienstes ISI (Inter-Services Intelligence) – kamen die Taliban Mitte der 1990er-Jahre, wo sie als afghanische Flüchtlinge in Koranschulen indoktriniert worden waren, zurück in ihr Land. Nach ihrem Sturz 2001 durch die USA gingen die meisten wieder ins Exil nebenan, Quetta wurde gleichsam zu ihrem offiziellen Stützpunkt. Sie haben in Pakistan Besitz, Vermögen und Geschäftsinteressen. Aus Pakistan flogen sie ab 2018 zu den Verhandlungen mit den USA nach Katar. Von dort kehren sie nun nach Afghanistan zurück.
Exilland Pakistan
Der erste Taliban-Chef Mullah Omar starb 2013 in einem pakistanischen Krankenhaus, sein Nachfolger Mullah Mansur wurde 2016 in Pakistan von einer US-Drohne getötet und dessen Nachfolger wiederum, Mullah Baradar, auf Wunsch der USA aus einem pakistanischen Gefängnis freigelassen. Die Verbindungen des pakistanischen Haqqani-Netzwerks zu den afghanischen Taliban lassen sich sogar an einer Person festmachen: Sirajuddin Haqqani ist in der Taliban-Führung fürs Militärische zuständig.
Dennoch zweifeln manche Experten daran, dass die heutigen Taliban von Pakistan genauso abhängig sind und beeinflusst werden können wie früher. Aber natürlich ist man in Islamabad alles andere als traurig. Die vorigen afghanischen Regierungen und vor allem die Nachrichtendienste sah man stets als Indien-freundlich – und Präsident Ashraf Ghani als US-Marionette – an. Pakistans Premier Imran Khan beschreibt die aktuellen Entwicklungen so: Afghanistan befreie sich von den «Ketten der Sklaverei».
Pakistan als Atommacht
Dass sich die USA das gefallen lassen, hängt auch mit dem Status Pakistans als Atommacht zusammen: Washington will keinen totalen Bruch und auch keinen stabilitätsgefährdenden internen pakistanischen Konflikt. Schlechtes Gewissen ist auch dabei: Die USA lassen Pakistan mit dem Problem Afghanistan immer wieder allein, schon in den 1990ern nach dem Abzug der Sowjets. Washington hat Islamabad auch nicht in die Doha-Verhandlungen mit den Taliban eingebunden.
Trotz des unbestrittenen Nahverhältnisses zu den neuen Herrschern in Kabul trägt aber auch Pakistan ein Risiko: Was ist nun mit den eigenen, den pakistanischen Taliban? Ermutigen die afghanischen Taliban ihre Brüder jenseits der Grenze? Zuletzt gab es Spannungen nach einem Attentat im Juli, das 13 Todesopfer forderte, darunter neun Chinesen. China ist Islamabads «best friend», Pakistan spielt in dessen «Neue Seidenstrasse»-Projekt eine wichtige Rolle – vielleicht in Zukunft unter Einbeziehung Afghanistans, was eine für China sehr attraktive Folge des US-Abzugs wäre.
Für China ist Afghanistan zweifellos ein geopolitisches Geschenk der USA: Die chinesischen Medien bedanken sich mit Spott und Hohn bei den abziehenden USA. Man kann jedoch sicher sein, dass Peking bei allen wirtschaftlichen und politischen Interessen eindeutige Forderungen an die Taliban stellen wird: einen klaren Schnitt mit dem Terrorismus und vor allem mit allen panislamistischen Ambitionen, die auch die chinesischen Uiguren – Xingjiang mit seinen Lagern liegt an der Grenze – einschliessen.
Chinas kurze Grenze
China will jede islamistische Ansteckungsgefahr bannen, Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Ausdehnung geht die Einhegung von Instabilität einher. Mullah Baradar, der Politchef der Taliban, war im Juli Teil der Peking-Delegation: Die Taliban wissen genau, wie wichtig China für sie ist. Sie haben bereits wissen lassen, dass sie zwar solidarisch mit allen Muslimen sind. Aber es gelte das Prinzip der Nichteinmischung. Über die «Wakhan Corridor Road», über die Grenze, soll keine Ideologie ex- beziehungsweise importiert werden.
In dieser Beziehung ist die russische Position jener Chinas sehr ähnlich: Es gibt wohl keine Eile, ein «Emirat» anzuerkennen, und die Bedingungen sind die gleichen – kein Terrorismus, keine Ermutigung von Islamisten ausserhalb Afghanistans. Mit Peking wird Moskau in einigen Punkten kooperieren, in anderen, angesichts des steigenden Einflusses von China in Zentralasien, konkurrieren. Beide teilen aus der Perspektive von autoritären Systemen die Sicht auf die Region und die Taliban – und auf die USA.
Russland und die «Stans»
Moskau hat den Taliban klare Hinweise gegeben: Eine russische Militärübung mit Sicherheitskräften aus zentralasiatischen Staaten folgt auf die andere. Die russische Präsenz in Tadschikistan, das auch Mitglied der CSTO (Collective Security Treaty Organisation) ist, wurde ausgebaut.
Nach Tadschikistan ging die erste grosse Absetzbewegung der afghanischen Armee während des Vormarsches der Taliban. Bei den gemeinsamen Grenzsicherungsmanövern macht aber auch Usbekistan mit, das sich ja selbst gerne als Wortführer für Zentralasien sehen würde und militärische Kontakte mit Pakistan sucht.
Turkmenistan hat immer für die Sicherheit seiner Grenzen gesorgt. Alle drei «Stans», die an Afghanistan grenzen, haben in den 1990er-Jahren schlechte Erfahrung mit den Taliban und ihrer Unterstützung für Islamisten gemacht. Alle werden mit den Taliban leben – wenn diese die Regeln einhalten. Und alle wollen Unterstützung von aussen, aber, um nicht Russland und China zu verärgern, nicht von den USA. Und schon gar keine US-Militärbasen.
Iran fährt zweigleisig
Die Islamische Republik Iran, mit ihren starken kulturellen Bindungen nach Afghanistan, stand 1998 nah an einem Krieg mit den Taliban, als diese im iranischen Konsulat in Mazar-i-Sharif acht iranische Diplomaten und einen Journalisten umbrachten. Die schiitische Volksgruppe der Hazara wurde von den Taliban systematisch verfolgt.
Die US-Invasion 2001 unterstützten die Iraner: Aber nachdem US-Präsident George W. Bush 2003 Teheran auf der «Achse des Bösen» verortet hatte, fuhren die Iraner sozusagen zweigleisig. Mit dem neuen Afghanistan konnten sie gut leben, gleichzeitig boten sie einigen hochrangigen Al-Kaida-Mitgliedern Zuflucht.
Auch in Teheran gab es zuletzt die «Die Taliban sind mehr nicht so wie früher»-Debatte, losgetreten von der Regimepostille «Keyhan». Präsident Ebrahim Raisi, an dessen Inauguration Anfang August Ashraf Ghani noch als afghanischer Präsident teilnahm, nennt den US-Abzug eine «Gelegenheit». Israel hofft übrigens, dass die USA ihre zutage getretene Schwäche bei möglichen Atomverhandlungen mit dem Iran mit besonderer Härte kompensieren.
Mit allen anderen Staaten der Region teilt der Iran die Furcht vor der Stärkung der eigenen sunnitischen Islamisten. Und über die mehr als 900 Kilometer lange Grenze kommen nicht nur Menschen, sondern auch Drogen: ein grosses Problem in der iranischen Gesellschaft.
Mediatorenrolle für die Türkei
Im Iran gibt es bereits etwa drei Millionen geflohene Afghaninnen und Afghanen: eine Belastung des Systems – und gleichzeitig ein Pool billiger Arbeitskräfte und schiitischer Milizionäre, etwa für Syrien. Dass viele Afghanen aus dem Iran weiterziehen wollen, veranlasst die Türkei dazu, den Bau ihres Grenzwalls zum Iran voranzutreiben.
Aber Ankara will auch politisch mitspielen. Die Türkei – von den Taliban bereits als «grosses islamisches Bruderland» angesprochen – hat durch die Verbindung zu Katar einen direkten Zugang und will den auch nützen. In Afghanistan kann Ankara auf alte Verbündete aus Mujahedin-Zeiten zählen, in Zentralasien sind die Türken gut vernetzt.
Eine Mediatorenrolle würde Ankara sowohl gegenüber den USA als auch der EU stärken. Präsident Tayyip Erdogan hat bereits angekündigt, dass er selbst mit den Taliban reden will. Und die Türkei habe nicht die Absicht, zu «Europas Migrantenlagerabteil» zu werden.
In der EU wird man das hören – die Schlüsse daraus werden sich viel mit unseren Befindlichkeiten und wenig mit denen der Region befassen, die in eine neue Ära geht.
Dieser Beitrag ist zuerst im «Standard» erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Gudrun Harrer
… ist leitende Redakteurin des österreichischen «Standard» und unterrichtet Moderne Geschichte und Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Wien.
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