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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

«Tatsächlich tragen 5- bis 20-mal mehr Menschen das Virus»

Die Corona-Fallzahlen, die Medien verbreiten, hätten mit den tatsächlichen Infizierungen wenig zu tun, sagt ein Statistikexperte.

02. April 2020

von Urs P. Gasche

Viele Medien berichten fast täglich über neu bestätigte «Corona-Fälle». Diese Zahlen werden in Form von Kurven- oder Säulengrafiken häufig mit den Fällen verglichen, die vor zwei oder drei Wochen erhoben wurden. Daraus entsteht der falsche Eindruck, dass die «Corona-Fälle» seit den drastischen Ausgehbeschränkungen weiter stark zunehmen. Infosperber hat solche Vergleiche schon mehrmals als irreführend beanstandet. «Wenn in Deutschland plötzlich viel mehr getestet wird, findet man zwangsläufig auch mehr Infizierte», erklärt jetzt auch Mathematiker und Statistiker Professor Gerd Antes* in einem Interview mit dem «Spiegel».

Doch Regula Messerli, Leiterin der SRF-Tagesschau, verteidigt die fast täglich ausgestrahlte Kurvengrafik: «Die Zuschauerinnen und Zuschauer können sich dank dieser Grafik ein ungefähres Bild der Ausbreitung machen».

Unseriöse Ländervergleiche

Ebenso unsinnig ist es, aus diesen Zahlen eine Corona-Rangliste der verschiedenen Länder zu fabrizieren, wie dies Medien weltweit tun. Solche Vergleiche stossen zwar auf reges Interesse, geben jedoch die tatsächliche Situation und Entwicklung völlig verzerrt wieder. Kurz gesagt: Länder, in denen viele Tests durchgeführt wurden, kommen an die Spitze der negativen Corona-Hitliste, während Länder mit wenigen Tests im Vergleich besser wegkommen.
Überdies sollte es einleuchtend sein, dass es in den USA mehr bestätigte Infizierte gibt als etwa in Liechtenstein. Doch aus unerfindlichen Gründen informieren die wenigsten Medien über die spezifischen Fallzahlen, also etwa pro 100’000 Einwohner.

Dazu ein extremes Beispiel: In Japan mit 127 Millionen Einwohnern wurden bis zum 27. März total nur 25’000 Tests durchgeführt (Quelle: New York Times). Allein in der kleinen Schweiz mit 8,6 Millionen Einwohnern wurden bis Ende März 130´000 Tests durchgeführt. Kein Wunder figurierte Japan auf der häufig verbreiteten Rangliste mit nur 2178 «Fällen» und 57 Verstorbenen fast ganz am Schluss.

Allein schon Japans ausgewiesene hohe Mortalitätsrate von 2,6 Prozent weist darauf hin, dass es dort viel mehr als 2178 Menschen geben muss, die sich mit Sars-CoV-2 angesteckt haben. Denn man rechnet heute mit einer Mortalitätsrate von lediglich 0,05 Prozent bis 0,7 Prozent oder maximal 1 Prozent. Das genauere Bestimmen der Sterblichkeitsrate unter der Gesamtbevölkerung wird für künftige Massnahmen entscheidend sein.

Mortalitätsvergleich mit der Influenza-Grippe noch unsicher

«Wir wissen noch nicht, wie tödlich das neue Coronavirus im Vergleich zur Grippe ist», erklärt Professor und Statistikexperte Gerd Antes. Es sei «ein sehr schmaler Grat zwischen Alarmismus auf der einen und Verharmlosung auf der anderen Seite». Die vorhandenen Zahlen seien «vollkommen unzuverlässig». Antes meint aber, dass «die Zahlen eher überschätzt werden und wir mehr Vertrauen haben können, dass die derzeitigen Massnahmen wirken».

Eine «menschliche Katastrophe» herrsche dort, «wo das Gesundheitssystem nicht mehr in der Lage ist, alle Kranken zu versorgen, etwa in Norditalien oder im französischen Elsass.» Dort seien zu viele Menschen zur gleichen Zeit schwer erkrankt. Die äusserst rasche Verbreitung unterscheide den Corona-Ausbruch von der jährlichen, sich vergleichsweise langsam ausbreitenden Grippewelle.

Über die Dunkelziffer der Infizierten sei wenig bekannt. Wir könnten deshalb nur schwer abschätzen, wie viele Menschen sich bisher mit dem Coronavirus bereits infiziert haben, aber nicht getestet wurden. «Die Schätzungen variieren extrem. Je nach Experten ist davon die Rede, dass sich fünf- bis zehnmal mehr Menschen infizieren als nachgewiesen werden. Manche Schätzungen liegen beim Zwanzigfachen oder sind noch höher.»

Damit die Behörden und die Bevölkerung die Aussichten besser einschätzen können, fordert Gerd Antes, «regelmässig, vielleicht jede Woche, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt auf Infektionen zu untersuchen». Dafür seien viele Tests und Ressourcen nötig. Doch das lohne sich. Denn aus dem Anteil der Infizierten in einer solchen wiederholten Stichprobe liessen sich genaue Rückschlüsse auf die Gesamtsituation ziehen, erklärt der Statistiker. So würde man abschätzen können, mit wie vielen Patienten im Allgemeinen und Intensivpatienten im Besonderen die Krankenhäuser in den nächsten Wochen rechnen müssen.

Je mehr durchgemachte Infektionen nachgewiesen würden, desto besser: «Denn jeder unbemerkte Fall lässt den Anteil der schweren Erkrankungen unter allen Infizierten schrumpfen.» Die Angst machenden Zahlen seien also eine positive Botschaft. Infosperber hatte schon am 26. März darüber informiert: 1 Prozent

Umgekehrt wäre eine geringe Immunität der Bevölkerung ein Zeichen dafür, so Antes weiter, dass der Anteil schwerer Verläufe recht hoch und der vorhandene Schutz geringer ist.

Urs P. Gasche

ist Redakteur der journalistischen Online-Zeitung Infosperber.ch. Der Infosperber konkurriert nicht mit großen Medienportalen, er ergänzt sie. Die Plattform hat sich als Ziel gesetzt, allein nach gesellschaftlicher oder politischer Relevanz zu gewichten. Der Infosperber sieht, was andere übersehen.

 

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