Bildquelle: Pixabay Image | Urheber: AndrzejRembowski
Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.
Das Katz-Maus-Spiel der Türkei mit der EU
Der EU-Gipfel drohte der Türkei wegen den Provokationen im östlichen Mittelmeer mit Sanktionen. Doch passiert ist fast nichts.
16. Dezember 2020
von Amalia van Gent
«Viel zu viele Provokationen». Bundesaussenminister Heiko Maas zeigte sich empört darüber, dass die Türkei allen Warnungen der EU zum Trotz unbeeindruckt ein «provozierendes Verhalten» im östlichen Mittelmeer zur Schau trug. Deutschland habe sich in den vergangenen Monaten ausserordentlich darum bemüht, einen Weg zu finden, um den Dialog mit der Türkei fortzusetzen – umsonst, erklärte er kurz vor dem EU-Gipfel den Medien. Maas deklarierte seine Bemühungen als «gescheitert». «Es ist nun Zeit, das Katz-und Mausspiel zu beenden», pflichtete ihm auch EU-Ratspräsident Charles Michel bei. Wie auch er ausführte, habe die EU Ankara im Oktober «die Hand ausgestreckt», um Konflikte friedlich zu beseitigen und die bilateralen Beziehungen zu verbessern – erfolglos. «Die EU kommt um Sanktionen nicht herum», fasste auch die einflussreiche deutsche FAZ zusammen. Denn Androhungen und symbolische Sanktionen könnten Erdogan von seinem Kurs nicht abbringen.
Eskalierender Konflikt im östlichen Mittelmeer
Seit über einem Jahr eskaliert im östlichen Mittelmeer ein Konflikt, der zunächst abstrus anmutete. Er begann, nachdem vor den Ufern Zyperns, Israels und Ägyptens reiche Erdgas-Reserven entdeckt worden waren und die Anrainerstaaten sowie Griechenland in bilateralen Verhandlungen ihre sogenannten «Exklusiven Wirtschaftszonen» (EWZ) festlegten, das bedeutet, den Raum, in dem jedes Land nach Erdöl- und Erdgas forschen darf.
Die türkische Diplomatie nahm an den Verhandlungen nicht teil — hätte vermutlich auch kaum daran teilnehmen können: Die Türkei hat nämlich das internationale Seerecht nie unterzeichnet und anerkennt Zypern auch nicht als Staat. Ankara hatte sich ferner aus unterschiedlichen Gründen mit Israel und Ägypten so verkracht, dass es die türkischen Botschafter aus Kairo und Tel Aviv abzog. Für dieses Versäumnis machte die türkische Politik Athen verantwortlich. Griechenland strebe an, die Türkei aus dem östlichen Mittelmeerraum auszuschliessen, hiess es auf einmal.
Das war der Beginn dieses Konflikts. Dieser erreichte eine neue Qualität, als die Türkei im November 2019 deklarierte, im östlichen Mittelmeer könne sich ohne die Billigung Ankaras nichts mehr rühren. Dieser Anspruch teilte die Anrainerstaaten in pro-griechische und pro-türkische Alliierte und verwandelte das östliche Mittelmeer zum Schauplatz anhaltender Militärübungen: Auf der Seite Griechenlands und Zyperns übten jeweils die Luftwaffen Frankreichs, Ägyptens und der Arabischen Emirate, während die Türkei auch von weit entfernten Ländern wie Pakistan unterstützt wurde.
Neue Hegemoniepläne
Es war die Zeit, als türkische Offiziere sich eifrig daran machten, neue Karten von einem sogenannten «Blauen Vaterland» zu entwerfen. Ihnen zufolge sollte das «Blaue Vaterland» ein Gebiet umfassen, das sich von der nördlichen Ägäis aus bis nach Ägypten erstreckt und das gesamte östliche Mittelmeer einschliesst. Dessen Hegemonialmacht wäre dabei unumstritten die Türkei. Was die Anrainerstaaten von diesem Plan hielten, war seinen Architekten kaum vom Belang. Die Türkei habe als Nachfolger des Osmanischen Reichs Anspruch, ihren Einfluss auf das ehemalige osmanische Gebiet auszuweiten, lautete ihr Argument.
Was sich zunächst als absurde science fiction anhörte und in Griechenland Stoff für Satire gab, änderte sich schlagartig ab dem Moment, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung das «Blaue Vaterland» als Leitfaden ihrer Politik adoptierten. Ankara schickte türkische Forschungsschiffe in zyprische und später in griechische Gewässer und liess diese demonstrativ von der türkischen Kriegsmarine eskortieren. Die Türkei würde ihr Blaues Vaterland im östlichen Mittelmeer und die Interessen der Inseltürken mit allen Mitteln verteidigen, beteuerte Erdogans treuer Verteidigungsminister Hulusi Akar. Er drohte, im Fall einer Behinderung mit Krieg.
Seither herrscht in breiten Schichten der griechischen Bevölkerung jene seltsame Überzeugung, dass ein Krieg mit der Türkei beinah unausweichlich sei. Die Ungewissheit darüber, ob Ankara tatsächlich bereit wäre, diesen Konflikt tatsächlich zu einem Krieg zwischen zwei NATO-Partnern ausarten zu lassen, macht auch die griechische Führung nervös. Seit Monaten vergeht kaum ein Tag, ohne dass hohe türkische Regierungsbeamte die griechische und damit auch die Souveränität der EU auf irgendeine Weise in Frage stellt. Bei seinem bislang letzten Vorstoss sprach Ankara griechischen Inseln das Recht ab, über einen Kontinentalsockel zu verfügen. Die ganze Inselkette der Ostägäis, darunter die Insel Rhodos und Lesbos, Chios und Samos würden auf dem Kontinentalsockel der Türkei liegen, erklärte die türkische Regierung kurz vor dem EU-Gipfel und liess eigenmächtig die türkische Search-and-Rescue-Zone bis Mitte der Ägäis ausweiten.
Volle Solidarität mit Griechenland?
Es ist über ein Jahr her, seitdem die EU die «illegalen Handlungen» der Türkei im östlichen Mittelmeer geschlossen verurteilt und ihre «volle Solidarität mit Griechenland und Zypern» erklärt hatte. Beim Treffen am 1. Oktober 2020 beschloss der Europäische Rat, der Türkei zum «allerletzten» Mal die Chance zu einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen einzuräumen. Sollte die Türkei ihre Provokationen im östlichen Mittelmeer einstellen, wäre die EU bereit, einer Modernisierung der Zollunion mit der Türkei sowie Erleichterungen bei der Erteilung von Visa für türkische Staatsbürger zuzustimmen. Ansonsten müsste die EU «alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente und Optionen nutzen, um ihre Interessen und die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu verteidigen». Die Regierungschefs drohten Ankara erstmals mit schmerzhaften Sanktionen. Sie räumten der Türkei eine Frist bis zum EU-Gipfel am 10. Dezember ein.
Am 10. Dezember hat die EU den Bruch mit der Türkei allerdings nicht gewagt. Deutschland und Ungarn lehnten schmerzhafte Sanktionen gegen die Türkei strikt ab. Ansonsten könnte die Türkei das Tor für syrische Flüchtlinge nach Europa wieder öffnen, lautete ihr Argument. Gegen Sanktionen ausgesprochen haben sich auch Italien sowie Spanien, und überraschenderweise auch Frankreich.
Kreditrisiken
Die Geldinstitute ihrer Länder hatten offensichtlich vor einem Kollaps der ohnehin taumelnden türkischen Wirtschaft eindringlich gewarnt. Für europäische Banken stünde viel auf dem Spiel, kommentierte der türkische Journalist Burak Bekdil. «Spanische Finanzinstitute haben in der Türkei nämlich 62 Milliarden Dollar investiert, die französischen 29 Milliarden, die britischen 12 Milliarden, die deutschen 11 Milliarden und weitere 8.7 Milliarden die italienischen». Ein Kollaps der türkischen Wirtschaft würde für europäische Banken somit einen Verlust von insgesamt 122.7 Milliarden $ bedeuten. Der EU-Gipfel am 10. Dezember beschloss, eine Entscheidung über mögliche Sanktionen gegen die Türkei um drei Monate aufzuschieben.
Der griechische Regierungschef Konstantin Mitsotakis versuchte seine Gesprächspartner an ihre bindenden Versprechen vom 1.Oktober zu erinnern und bat sie, zumindest keine Waffen in eine Türkei zu schicken, die von ihrer Umgebung als aggressiv empfunden werde. Seit 2016 führt die türkische Armee einen doppelten Krieg in Syrien – gegen die Truppen des syrischen Herrschers Al-Assad und gegen die Kurden Nordsyriens und lässt ihre Luftwaffe seit Monaten beinah pausenlos den von Kurden bewohnten Nordirak bombardieren.
Letzten September hat Ankara seinen Alliierten im Südkaukasus, Aserbaidschan, zu einem Krieg gegen Armenien ermuntert und diesen Krieg mit Waffen, türkischen Offizieren sowie Drohnen und offensichtlich auch Dschihadisten aus Syrien unterstützt. Armenien, die kleine und wohl ärmste Republik im Südkaukasus, hatte somit von Beginn an keinerlei Chance, den Angriffskrieg ihrer hochüberlegenen Gegner abzuwehren, geschweige denn zu gewinnen. Und nun richtet sich die Türkei gegen Griechenland und Zypern. Was habe es für einen Sinn, einen Nato-Mitgliedstaat wie die Türkei mit Waffen zu beliefern, die gegen ein zweites NATO-Mitglied, Griechenland, gerichtet sind, fragte der griechische Premier. Doch der Ruf des griechischen Premiers blieb ungehört. Der EU-Gipfel hat seine Entscheidung über mögliche Sanktionen gegen die Türkei um drei Monate aufgeschoben.
Der zermürbende Nervenkrieg in der Ägäis wird somit für mindestens drei weitere Monate fortgesetzt. Athen kann nur hoffen, dass die Machtdemonstrationen in der Ostägäis nicht zu einem «Unfall» führen. Und es kann auch hoffen, dass der neue amerikanische Präsident mehr Gewicht auf das internationale Recht legt und einen Kurswechsel im östlichen Mittelmeer herbeiführt.
Wenig Raum für Diplomatie
Der EU-Gipfel letzte Woche hatte sich dem hehren Ziel verschrieben, der Willkür des Potentaten Erdogan einen Riegel zu schieben. Das ist aber nicht passiert. Der Türkei sollte mehr Zeit für Diplomatie eingeräumt werden, begründete der EU-Ratspräsident Charles Michel die Aufschiebung der Entscheidung.
Die Hoffnung, dass Erdogan sich ändern wird, hält der türkische Journalist Cengiz Candar als illusorisch: Erdogan zähle sehr viele Ultranationalisten zu seinen Verbündeten, kommentiert er. Ihre Kanonenboot-Diplomatie sei von einer Doktrin betont expansionistischen geprägt. Solange Erdogans «Bündnis mit den Ultranationalisten andauert, gibt es wenig Raum für Diplomatie, und noch weniger für eine diplomatische Lösung mit Griechenland». Erdogan hat 2016 eine Allianz mit der rechtsextremen ultranationalistischen MHP-Partei geschlossen, um überhaupt regieren zu können. Die letzten Umfragen zeigen, dass das Kräfteverhältnis in Ankara sich längst verändert und stark zugunsten der Ultranationalisten verschoben hat.
Amalia van Gent
… arbeitete von 1988 bis 2010 als Korrespondentin der Neuen Züricher Zeitung. Sie berichtete über die Türkei sowie über die Kaukasusstaaten. Zudem ist sie eine hervorragende Kennerin der Lage des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Heute sind ihre Beiträge relemäßig auf der Onlineplattform www.infosperber.ch zu finden.
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!