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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

«In der Ukraine geht es den USA um Vorherrschaft»

Die Neocons Condoleezza Rice und Robert M. Gates, aber auch der ukranische Verteidigungsminister reden von Stellvertreterkrieg.

12. Januar 2023

von Redaktion Infosperber

upg. Die frühere US-Aussenministerin Condoleezza Rice und der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert M. Gates fordern noch viel mehr Waffen für die Ukraine und warnen, dass die Zeit nicht auf der Seite der Ukraine sei.
Eine Sicht von der Südseite der Erdkugel vertritt M.K. Bhadrakumar, Ex-Botschafter Indiens und Kolumnist grosser indischer Zeitungen. Wir dokumentieren seine Antwort auf Rice und Gates sowie seine Einschätzung der aktuellen Lage im Krieg in der Ukraine, die er auf seiner Webseite Indianpunchline veröffentlichte.

«Es braucht dramatisch mehr militärische Mittel»

In der Dunstsphäre um die Regierung in Washington gibt es einen parteiübergreifenden Konsens darüber, dass die USA die «unverzichtbare» Weltmacht sind. Dieser Konsens wird in der Regel den Neocons zugeschrieben, die seit den 1970er-Jahren die treibende Kraft der US-Aussen- und Sicherheitspolitik sind, unabhängig davon, ob die Demokraten oder die Republikaner regierten.

Ein Artikel in der Washington Post vom 7. Januar 2023 mit dem Titel Die Zeit ist nicht auf der Seite der Ukraine verdeutlicht dieses Paradigma. Verfasst haben den Artikel Condoleezza Rice, ehemalige Aussenministerin unter dem republikanischen Präsidenten George W. Bush, und Robert Gates, der sowohl unter Bush als auch unter seinem demokratischen Nachfolger Barack Obama tätig war. 

Rice und Gates unterstützen den Krieg von Präsident Biden gegen Russland. Doch sie fordern die USA und die NATO-Verbündeten auf, der Ukraine «dramatisch mehr Militärhilfe» zur Verfügung zu stellen, weil sonst eine direkte militärische Intervention der USA unvermeidlich werden könnte.

Condoleezza Rize und Robert Gates erinnern an die beiden Weltkriege, die den Aufstieg der USA zur Weltmacht markierten, und warnen, dass die von den USA geführte «internationale Ordnung» – ein Codewort für die globale Hegemonie der USA – in Gefahr sei, falls Biden in der Ukraine versagt.

Rice und Gates gehen damit offensichtlich davon aus, dass Russland, im Gegensatz zur bisherigen Darstellung des Westens, auf der Siegesstrasse ist. Die erwartete russische Offensive zerrt offensichtlich an ihren Nerven.

Ihre Stellungnahme hat auch mit der US-Innenpolitik zu tun. Die Pattsituation um den Sprecher des Repräsentantenhauses und ihre dramatische Zuspitzung in einem erbitterten politischen Kampf unter den Republikanern lässt einen dysfunktionalen Kongress bis zu den Wahlen 2024 erahnen.

Der Sprecher Kevin McCarthy, der übrigens die Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Donald Trump hatte, gewann schliesslich, aber erst nachdem er eine Reihe von Zugeständnissen an den populistischen Flügel gemacht hatte. Das schwächt seine Autorität. Die AP berichtete: «Es wurde mit dem Finger gezeigt, Worte wurden gewechselt und Gewalt wurde offenbar gerade noch abgewendet […] Es war das Ende einer bitteren Pattsituation, welche die Stärken und die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie aufzeigte.»

McCarthy erklärte nach seiner Wahl zum neuen Sprecher des Repräsentantenhauses, eine starke Wirtschaft, die Bekämpfung der illegalen Einwanderung über die mexikanische Grenze und der Wettbewerb mit China habe in den kommenden Monaten Priorität. Es fiel auf, dass er die Lage in der Ukraine und die US-Hilfe für Kiew nicht erwähnte.

Noch im November hatte McCarthy erklärt, die Republikaner im US-Repräsentantenhaus seien gegen eine unbegrenzte und ungerechtfertigte Finanzhilfe für die Ukraine.

Auch wenn Trump an Einfluss verlor, ist er immer noch ein aktiver Akteur, der massiv präsent ist und bei weitem die grösste Stimme in der republikanischen Partei. Daher wird seine Unterstützung für McCarthy von entscheidender Bedeutung sein.

Hinter dem Artikel könnte das Weisse Haus stehen

Biden ist sich dessen bewusst. Es ist denkbar, dass das Weisse Haus den Meinungsartikel von Rice und Gates in Auftrag gaben, unterstützt vom US-Sicherheitsapparat und geschrieben von den Neocons. Es gibt Indizien:

  • Der Artikel erschien just am Tag nach der gemeinsamen Erklärung von Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz vom 5. Januar, in der sie ihre «unerschütterliche Solidarität»  mit der Ukraine betonten.
  • Unter dem immensen Druck von Biden folgten Deutschland und Frankreich letzte Woche dem Wunsch der USA, der Ukraine Schützenpanzer zu liefern. Scholz liess sich auch dazu überreden, sich gegenüber Biden zu verpflichten, dass Deutschland gemeinsam mit den USA eine zusätzliche Patriot-Luftabwehrbatterie an die Ukraine liefern wird. (Ein SPD-Spitzenpolitiker hat inzwischen Vorbehalte geäussert.)
  • Am selben Tag, an dem der Meinungsartikel von Rice und Gates erschien, arrangierte das Pentagon – ungewöhnlich für einen Samstag – ein Pressebriefing von Laura Cooper, stellvertretende Verteidigungsministerin für internationale Sicherheitsfragen. Cooper erklärte ausdrücklich, dass der Krieg in der Ukraine die globale Stellung der USA selbst bedrohe. Sie sagte u.a.:

«Aus einer gesamtstrategischen Perspektive kann man gar nicht genug betonen, welch verheerende Folgen es hätte, wenn Putin sein Ziel, die Ukraine zu übernehmen, erreichen würde. Dies würde die internationalen Grenzen in einer Weise neu definieren, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Und unsere Fähigkeit, diese Gewinne [Russlands] rückgängig zu machen und die Souveränität einer Nation zu unterstützen und ihr beizustehen, findet nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt Anklang.»

Die Katze ist aus dem Sack – die USA kämpfen in der Ukraine, um ihre globale Hegemonie zu bewahren. Ob Zufall oder nicht, der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hat am gleichen Wochenende in einem aufsehenerregenden Interview in Kiew eingeräumt, dass Kiew sich bewusst von der NATO in ihrem Konflikt mit Moskau benutzen lässt!

Wörtlich sagte der ukrainische Verteidigungsminister Reznikov: 

«Auf dem NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022 wurde klar umrissen, dass die Hauptbedrohung für die Allianz im kommenden Jahrzehnt die Russische Föderation sein würde. Heute ist die Ukraine dabei, diese Bedrohung zu beseitigen. Wir führen heute die Mission der NATO aus. Die NATO vergiesst nicht ihr Blut. Wir vergiessen das unsere. Deshalb ist die NATO verpflichtet, uns mit Waffen zu versorgen.»

Der ukrainische Verteidigungsminister sagte sogar, er habe persönlich Grusskarten und Textnachrichten von westlichen Verteidigungsministern erhalten, die dies zum Ausdruck brachten. Reznikov meinte auch, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine beschlossene Sache sei.

Am 7. Januar kündigte das Pentagon das bisher grösste Sicherheitspaket der Biden-Administration für die Ukraine im Rahmen des Presidential Drawdown an. Offensichtlich zieht die Biden-Regierung alle Register. 

Putin erklärte am 5. Januar, dass «Russland für einen ernsthaften Dialog offen ist – unter der Bedingung, dass die Kiewer Behörden die wiederholt gestellten klaren Forderungen erfüllen und die neuen territorialen Gegebenheiten anerkennen».

Was den Krieg anbelangt, so sind die Nachrichten aus dem Donbass äusserst besorgniserregend. Soledar ist bald in russischer Hand, und die Wagner-Kämpfer ziehen die Schlinge um Bachmut immer enger. Das ist ein strategischer Kommunikationsknotenpunkt und Dreh- und Angelpunkt der ukrainischen Einsätze im Donbass.

Andererseits zeigt sich Moskau wider Erwarten unbeeindruckt von sporadischen, theatralischen ukrainischen Drohnenangriffen innerhalb Russlands. Die russische öffentliche Meinung steht weiterhin fest hinter Putin. Der Befehlshaber der russischen Streitkräfte, General Sergej Surowikin, hat prioritär die so genannte «Kontaktlinie» befestigt. Sie erweist sich gegen ukrainische Gegenangriffe als wirksam.

Das Pentagon ist sich über Surowikins künftige Strategie nicht sicher. In Weissrussland setzen sich russische Streitkräfte immer stärker fest. Die Raketensysteme S-400 und Iskander sind dort stationiert. Ein Angriff der NATO (Polen) auf Belarus ist nicht mehr realistisch. Am 4. Januar begrüsste Putin das neue Jahr mit der gewaltigen Fregatte Admiral Gorschkow mit dem «hochmodernen Hyperschall-Raketensystem Zircon, das keine Entsprechung» habe. Die Fregatte brach zu einem «Langstrecken-Marineeinsatz über den Atlantik, den Indischen Ozean und das Mittelmeer» auf. Eine Woche zuvor wurde das sechste raketenbestückte strategische Atom-U-Boot der Borei-A-Klasse, die Generalissimus Suvorov, in die russische Marine aufgenommen. Diese U-Boote können 16 ballistische Interkontinentalraketen vom Typ Bulava transportieren.  

Der Nebel des Krieges umhüllt die russischen Absichten. Rice und Gates haben gewarnt, dass die Zeit für Russland arbeite: 

«Die militärischen Fähigkeiten und die Wirtschaft der Ukraine hängen jetzt fast vollständig von den Lebensadern des Westens ab – in erster Linie von den USA. Ohne einen weiteren grossen ukrainischen Durchbruch und Erfolg gegen die russischen Streitkräfte wird der westliche Druck auf die Ukraine zunehmen, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Gegenwärtig würde jeder ausgehandelte Waffenstillstand den russischen Streitkräften eine starke Position verschaffen.»

Dies ist eine brutal offene Einschätzung. Weil die politische Klasse in den USA zerstritten ist, kann sich Biden keine Risse in der Einheit der Verbündeten leisten. Seltsamerweise war dies auch die Hauptaussage eines Artikels, den ein führender russischer Experte, Andrej Kortunow, vor kurzem in der Tageszeitung der KP Chinas, Global Times, veröffentlichte. Er trug den Titel «Innenpolitische Probleme der USA könnten dazu führen, dass das Thema Ukraine an den Rand des öffentlichen Diskurses in den USA gedrängt wird». Kortunow schrieb: 

«Wenn man die Emotionen beiseite lässt, muss man akzeptieren, dass der Konflikt nicht nur für die Ukraine und Russland, sondern auch für die USA bereits existenziell geworden ist: Die Biden-Administration kann eine Niederlage in der Ukraine nicht hinnehmen, ohne grosse negative Auswirkungen auf die Positionen der USA in der ganzen Welt zu befürchten.»

Kortunow schrieb dies fast zwei Wochen, bevor Rice und Gates die gleiche metaphysische Wahrnehmung äusserten. Aber die Neokonservativen realisieren noch nicht, dass sie vor der Wahl stehen: entweder Biden mit dem Ziel einer multipolaren Weltordnung auf die Seite Putins zu navigieren oder in unruhigen Gewässern zu versinken. 

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Übersetzung: Deeple/upg.
Originaltext auf Englisch HIER.
Originaltext des Artikels von Rice und Gates HIER.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

M.K. Bhadrakumar

war Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Afghanistan, Iran, Pakistan, in der Türkei und auch in Deutschland. Er publiziert regelmässig auf seiner Webseite Indianpunchline aus «nicht-westlicher Sicht» zum Krieg in der Ukraine. Er ist auch Kolumnist der indischen Zeitungen The Hindu und Deccan Herald.

 

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