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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.
«Bidens Eskalation mit Russland ist ein entsetzliches Konzept»
Der britische Russland- und Ukraine-Kenner Richard Sakwa analysiert die Russland-Politik der USA und sieht die Fehler des Westens
20. Februar 2022
Ein Interview zwischen Richard Sakwa und David Broder
David Broder: In den westlichen Medien wird die Ukraine oft fast ausschliesslich über ihre Feindschaft mit Russland definiert. Eine Schlagzeile der «Times» zitierte einen General, der sagte: «Die Ukrainer sind bereit, die Russen mit blossen Händen zu zerlegen.» Vor allem nach dem NATO-Gipfel 2008 wird auch angenommen, dass die Ukrainer der NATO beitreten wollen, Russland dies aber verhindert. Welche Beweise gibt es dafür?
Richard Sakwa: Das geht viel weiter zurück als der NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, auf dem sowohl Georgien als auch die Ukraine eingeladen wurden, der NATO beizutreten. Es ist die Art und Weise, wie die ukrainische Politik lange Zeit auf die so genannte europäische Entscheidung hin ausgeformt wurde – die ihrerseits sehr umstritten war, da eine Umfrage nach der anderen zeigte, dass die ukrainische Öffentlichkeit gespalten ist. Sie ist im Laufe der Jahre etwas ins Wanken geraten, aber im Grunde genommen will der westliche Teil der Ukraine, jener Teil, den wir das galizische Element nennen würden [und der historisch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Österreich-Ungarn gehörte, Red.], nicht nur dem Westen beitreten, sondern alle Verbindungen zu Russland abbrechen.
Der Postkolonialismus, wenn dieser Begriff in diesem Fall verwendet werden darf, geht, nachdem man kolonisiert wurde, von einer Hybridität aus, z. B. auf sprachlicher und kultureller Ebene, während die kulturellen Separatisten glauben, dass es post-kolonial nur mit einem Bindestrich ist, dass man also alle früheren Verbindungen auslöschen muss. Die südlichen und östlichen Teile des Landes aber sind eher geneigt, enge Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten. In gewisser Weise hat Wladimir Putin recht, wenn er sagt, dass Russen und Ukrainer in Bezug auf Kultur, Geschichte, Mischehen und so weiter ein Volk sind. Er hat nie gesagt, dass sie ein Staat sein sollten – und das ist ein grundlegender Unterschied.
Als ich 2008 durch den Donbass reiste, stand überall auf den Gebäudewänden aufgemalt «Nein zur NATO». Jetzt hingegen haben wir die WikiLeaks-Dokumente des Aussenministeriums gesehen, die 2010/11 veröffentlicht wurden und endlose Botschaften des US-Botschafters in Kiew zeigen, in denen es heisst, die Menschen wollten unbedingt in die NATO. Das war von Anfang an eine phantasievolle und künstliche Idee, die davon ausging, dass die Entscheidung einfach und eindeutig zugunsten des Westens ausfalle. Russland wurde dann so dargestellt, als ob es die Ukraine geopolitisch, entwicklungspolitisch und vor allem in Bezug auf die Demokratie zurückhalte.
Die Situation ist jedoch viel komplexer, wie Meinungsumfragen auch heute noch zeigen. Gerard Toal und seine Kollegen haben gezeigt, dass ein erstaunlich hoher Anteil – 30 oder 40 Prozent der Bevölkerung, selbst wenn man die Krim und den Donbass nicht mitzählt – enge Beziehungen zu Russland wünscht. Einige wollen sogar der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten. Es handelt sich also um das, was Zbigniew Brzezinski und früher vor allem Samuel Huntington als ein gespaltenes Land beschrieben haben, ein geteiltes Land. Es ist darum falsch, anzunehmen, dass die Ukrainer sich eindeutig für die NATO entschieden haben. Aber diese Entscheidung hat sich seit der Bildung der neonationalistischen Regierung im Februar 2014 nach den Ereignissen auf dem Maidan aufgedrängt.
David Broder: Aus Wolodymyr Ischtschenkos Analyse dieser Meinungsunterschiede ergibt sich der Eindruck, dass die Unterstützung für einen NATO-Beitritt in den 1990er-Jahren sehr gering war, nun aber gestiegen ist, und es ist leicht vorstellbar, dass der Krieg von 2014 die Gegensätze verhärtet hat. Die Wahl von Volodymyr Selenskyj im Jahr 2019 wurde jedoch klar als Ausdruck des Willens der Bevölkerung gesehen, die Spannungen abzubauen: Bei dieser Wahl verloren die Pro-Maidan-Kräfte an Unterstützung, nachdem er sich für die Einhaltung von Minsk II ausgesprochen hatte. Warum hat sich das in der Praxis nicht bewahrheitet?
Richard Sakwa: Ja, Selenskyj wurde als Friedenskandidat gewählt. Aber ich würde noch weiter gehen und sagen, dass auch Petro Poroschenko, als er im Mai 2014 gewählt wurde, als Friedenskandidat auftrat – die Menschen wählten ihn auch, weil sie ihn als Oligarchen mit engen Beziehungen zu Russland usw. sahen. Doch keiner von beiden konnte eine Abkühlung der Spannungen durchsetzen.
Im Dezember 2019 traf sich das Normandie-Format mit Deutschland, der Ukraine, Russland und Frankreich, und Selenskyjs Stabschef versuchte, diesen Prozess voranzutreiben. Doch noch während des Treffens mobilisierten die Menschen auf dem Maidan und erklärten, dass sie keine Verhandlungen oder die Umsetzung des Minsk-II-Abkommens akzeptieren würden, wenn es um die Gewährung von Autonomie für den Donbass ginge.
Der erste Faktor ist also, dass es in der Ukraine eine stark mobilisierte, radikalisierte Minderheit gibt, die die Politik in Geiselhaft hält. Zweitens wird diese Minderheit – auch wenn über einige ihrer abscheulicheren Ausprägungen [gemeint sind offensichtlich die Neonazi, Red.] geschwiegen wird – geopolitisch von den westlichen Mächten unterstützt, von dem, was ich das atlantische Machtsystem nenne. Es ist nicht nur die NATO, sondern – und das ist meiner Meinung nach ein Skandal – auch die Europäische Union, die ihre eigenen Prinzipien nicht wirklich eingehalten hat.
Noch schlimmer als Poroschenko hat Selenskyj die russischsprachigen Kultur- und Medieninstitutionen in der Ukraine untergraben und ein verzerrtes Geschichtsbild propagiert. In gewisser Weise haben also externe und interne Faktoren zusammengewirkt. Trotz alledem zeigen Meinungsumfragen, dass die Ukrainer nach wie vor gespalten sind, auch wenn es eine Annäherung zugunsten der Verteidigung der staatlichen Souveränität der Ukraine gegeben hat.
Tatsächlich sind die Ukrainer im Allgemeinen ein sehr friedliebendes Volk. Deshalb ist es so katastrophal, dass wir jetzt von Krieg und Konflikt sprechen müssen. Doch all dies ist Teil eines grösseren Bildes, eines zweiten Kalten Krieges. Wenn es sich aber um einen echten Kalten Krieg handelt, dann müssen wir lernen, wie man mit Konflikten umgeht. Ich meine, dass wir uns heute in einer Zeitlupen-Kuba-Krise befinden. Im Oktober 1962 wurde sie friedlich gelöst. Die Jupiter-Raketen wurden aus der Türkei abgezogen, die Sowjetunion zog ihre Raketen aus Kuba ab, und die Vereinigten Staaten versprachen, nicht in Kuba einzumarschieren.
Das ist letztlich das, was Putin will. Auch Boris Jelzin vor ihm und davor Michail Gorbatschow haben immer argumentiert, dass die Ausweitung des atlantischen militärischen Sicherheitssystems bis an die Grenzen Russlands inakzeptabel sei. Diese Frage zieht sich also nun schon seit dreissig Jahren hin. Putin sagte in seiner Rede zur Lage der Nation 2018: «Ihr habt uns damals nicht zugehört, also hört uns jetzt zu» – als er Hyperschallraketen und Anderes ankündigte. Das ist der Hintergrund dessen, wo wir heute stehen.
Aber letztlich ist die Gesellschaft in der Ukraine innerlich gespalten. Es gibt ein grosses Friedenskontingent, doch die schlimmsten Elemente der ukrainischen Bevölkerung werden durch die Unterstützung des Westens für kurzfristige geopolitische Vorteile noch gestärkt. Noch vor nicht allzu langer Zeit war die Ukraine zur Neutralität verpflichtet. Wenn Irland neutral sein kann, wenn Österreich neutral sein kann, wenn Finnland neutral sein kann, warum dann nicht auch die Ukraine, zumal es in der Ukraine selbst eine grosse Wählerschaft dafür gibt? Immerhin war dies die offizielle ukrainische Politik bis zur Machtübernahme der Neonationalisten im Jahr 2014.
David Broder: In einigen Berichten werden die Äusserungen Michail Gorbatschows hervorgehoben, die Osterweiterung der NATO sei am Ende des Kalten Krieges nie diskutiert worden, um die Behauptung der russischen Regierung zu widerlegen, dass «Versprechen gemacht, aber nicht gehalten wurden». Aber sie verfehlen vielleicht seinen weitergehenden Punkt, nämlich dass die Erweiterung der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges Russland als mögliches Mitglied nicht nur ausschloss, sondern dass sie direkt gegen Russland gerichtet war. Wie ernst sollten wir den von Gorbatschow und nach ihm sowohl von Jelzin als auch von Putin vorgebrachten Vorschlag eines «grösseren Europas», das Russland einschliesst, als Alternative zu diesem zweiten Kalten Krieg nehmen?
Richard Sakwa: Auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Es sind nicht nur Gorbatschow, Jelzin und Putin, die diese Idee vertreten haben. Es ist, wie man weiss, eine gaullistische Idee, dass Europa letztlich sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. François Mitterrand sprach auch von einer Konföderation Europas.
Gorbatschow machte eine irreführende Aussage, dass es keine Zusagen gegeben habe, die NATO nicht zu erweitern, aber niemand versteht so recht, warum. Alle Dokumente des Nationalen Sicherheitsarchivs, die 2017 veröffentlicht wurden, zeigen, dass Dutzende westlicher Staats- und Regierungschefs sagten, die NATO werde nicht über das vereinigte Deutschland hinaus erweitert. Das ist unzweideutig. Es ist Teil des aussergewöhnlichen Propagandakriegs, in dem wir uns jetzt befinden, wenn westliche Wissenschaftler und Politiker sagen, dass es kein Versprechen gab. (Gerade vor ein paar Tagen wurden Dokumente gefunden, die erneut beweisen, dass der Westen versprochen hatte, die NATO nicht zu erweitern. Siehe die blaue Box unten. Red.)
Letztlich gab es am Ende des Kalten Krieges zwei Friedensordnungen, die beide gut waren. Da war die westliche, «Europa ganz und frei». Das «Gemeinsame Europäische Haus» hingegen basierte auf der Idee einer Transformation. Es ging nicht einmal darum, dass die NATO-Erweiterung als solche so schlecht war, sondern dass sie ohne einen angemessenen Rahmen stattfand, in dem auch die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigt werden konnten.
Ein «Gemeinsames Europäisches Haus» ist der einzige Weg nach vorn. Man mag sich jetzt darüber lustig machen, aber ich tue es nicht. Und es gibt viele Menschen in Russland, die das auch so sehen – Liberale und sogar einige Konservative. Es stellt sich die Frage, in welcher Form dies geschehen soll. Gorbatschow und andere wollten eigentlich, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) das wichtigste Sicherheitsgremium wird, mit einem Sicherheitsrat, der wie eine regionale UNO agiert, was das Problem gelöst hätte. Dann hätte die NATO erweitert werden können. In vielerlei Hinsicht sind einige der Argumente, die dafür sprechen, recht gut. Die NATO verhindert, dass kleine Staaten gegeneinander Krieg führen, und hoffentlich wird sie auch weiterhin verhindern, dass die Türkei und Griechenland in einen Konflikt geraten.
Aber die öffentliche Meinung in Russland ist nicht kriegsbereit, ganz im Gegenteil.
Die öffentliche Meinung in Russland ist nicht kriegsbereit – ganz im Gegenteil! Aber Russland muss auf die eine oder andere Weise in die Sicherheitsordnung einbezogen werden, und genau das ist nicht geschehen. Es gab den Ständigen Gemeinsamen NATO-Russland-Rat von 1997 und dann den NATO-Russland-Rat von 2002, aber das waren, wie ich es nenne, Besänftigungsmassnahmen und keine wirkliche Lösung der Frage. Zweifellos haben Putin und sein Team – seine Hardliner – seit 2018 gesagt: «Genug davon, wir können dem Westen nicht trauen, sie bewegen sich an der Grenze.» Und es ist nicht nur die NATO: Es sind insbesondere auch die Anlagen zur Abwehr ballistischer Raketen, die sowohl in Rumänien als auch in Polen gebaut werden, und die MK-41 Aegis Ashore. Wenn es also zu endlosen Provokationen kommt, die Moskau als militärische Übungen betrachten würde – B-52-Bomber, die entlang der russischen Grenze fliegen und Atombomben tragen können, Kriegsschiffe im Schwarzen Meer ohne Ende –dann sagt der gesunde Menschenverstand, dass es letztendlich zu einem Gegenschlag kommen wird. Und das Erschreckende an diesem zweiten Kalten Krieg ist, dass nur wenige im Westen wirklich verstehen, wie viel auf dem Spiel steht.
David Broder: Wir haben gesagt, dass die Ukraine kein Monolith ist, aber bestimmte Kräfte wollen die Spannungen mit Russland aus ihren eigenen Gründen verstärken. Etwas Ähnliches könnte man auch über Russland selbst sagen. Abgesehen von Alexej Nawalny, der in seinem Kommentar in der «Time» den Westen beschuldigt, Putin in die Hände zu spielen, und auch fordert, der Westen möge aufhören, ihn zu beschwichtigen, gibt es auch oppositionelle Kräfte, die Putin kritisieren, aber nicht aus einer pro-westlichen Perspektive. Welchen Wert sollten wir der Idee beimessen, dass Putin seine Forderungen stellt, um die innenpolitische Situation zu managen, die Bevölkerung um das Spektakel des Konflikts zu scharen – oder, wie einige sagen, sogar zu versuchen, die Gaspreise hochzutreiben?
Richard Sakwa: Eines der beunruhigendsten Elemente heute ist, dass die Liberalen in Russland versuchen, ihre innenpolitische Schwäche zu kompensieren, indem sie sich die Unterstützung des Westens zunutze machen, was sie im eigenen Land allerdings nur schwächt. Meinungsumfragen zeigten nur 1-2 Prozent Unterstützung für Nawalny, als er noch auf freiem Fuss war, und auch heute noch, trotz der grossen Öffentlichkeitswirkung seiner Inhaftierung. Die Liberalen sind also in dieser Todesspirale gefangen, in der sie in dieser schrecklichen Sprache des Kalten Krieges als «Fünfte Kolonne» und «Ablenkungsmanöver» dargestellt werden, was für die meisten von ihnen natürlich nicht zutrifft, da sie nur für mehr verfassungsmässige Rechte, Demokratie usw. eintreten. Das ist das gefährliche Spiel, das sie mit dem Westen spielen.
Aber die öffentliche Meinung in Russland ist nicht kriegsbereit, ganz im Gegenteil. Dasselbe gilt übrigens auch für die Ukraine; nur die westliche Bevölkerung scheint sich jetzt aufzuregen. Die Ukrainer sind friedlich, und die Russen sind es auch.
Die Behauptung, die westliche Kommentatoren immer wieder aufstellen, Putin betreibe Säbelrasseln, um von seiner sinkenden Beliebtheit im Land abzulenken, ist völlig falsch. Seine Popularität ist zwar gesunken, aber für jemanden, der seit zwanzig Jahren an der Macht ist, liegt sie immer noch auf einem hervorragenden Niveau (65 Prozent Zustimmung). Ich bin kein offensiver Realist vom Schlage eines John Mearsheimer, der behauptet, dass die Innenpolitik keinen Einfluss auf die Aussen- und Sicherheitspolitik hat, obwohl ich mit seinem Argument durchaus einverstanden bin.
Im Grunde genommen haben die Hardliner in Moskau gesagt: ‹Es reicht, wir sind vom Westen für dumm verkauft worden, wir müssen wirklich anfangen, uns zu wehren›.
Ich habe immer eine «parteinterne» Sichtweise der russischen Politik verteidigt: Es gibt sehr starke unterschiedliche Tendenzen, von der breiten Bevölkerung bis hinauf zur gespaltenen Elite. Soweit ich weiss, haben die sogenannten Pragmatiker im Kreml und in der Führungselite seit Herbst 2019 ihre Position verloren. Im Grunde haben die Hardliner gesagt: «Genug ist genug: Wir sind vom Westen für dumm verkauft worden, wir müssen wirklich anfangen, uns zu wehren.» Leider gehörte dazu auch die Unterdrückung der einheimischen Opposition, was meiner Meinung nach – wie zu Sowjetzeiten – ein grosser selbstverschuldeter Schlag ist. Diese interne Unterdrückung trägt nicht zur Glaubwürdigkeit der aussenpolitischen Massnahmen Russlands bei. Diese könnten durchaus sinnvoll sein, so wie wir es gesagt haben – es geht hier eindeutig um die Sicherheit. Aber das wird zum Beispiel durch die Versuche untergraben, [die Menschenrechtsorganisation] Memorial zu schliessen. Für mich war die Existenz von Memorial, die mehr oder weniger normal weiterarbeiten konnte, ein Symbol dafür, dass es letztlich noch ein gewisses Mass an Pluralismus und Offenheit gab. Doch seit Herbst 2019 wehrt sich die Regierung ganz massiv dagegen.
David Broder: Die britische Medienberichterstattung konzentriert sich oft auf unsere Verantwortung, Putin nicht zu «besänftigen». Auch in der deutschen Politik gibt es diese Analogie zum Zweiten Weltkrieg [gemeint ist die Parallele zu «München 1938», Red.], wobei die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock sagt, Berlin habe die Pflicht, diese Staaten aus «historischen Gründen» zu schützen. Die Idee, dass kleine Länder wie die baltischen Staaten in der Lage sein sollten, für sich selbst zu entscheiden und nicht schutzlos zurückgelassen zu werden, wofür Putin im Grunde genommen plädiert, klingt auf einer gewissen Ebene verlockend. Aber natürlich gibt es auch ein Problem mit dieser Analogie, insofern als sie eine Trope, eine bildhafte Anschauung in die westliche Politik reimportiert, die alle Kritiker oder diejenigen, die keine strikten Befürworter der Aufrüstung sind, als neuzeitliche «Beschwichtigungspolitiker» verteufelt.
Riachrd Sakwa: Die von Ihnen erwähnte Tendenz ist noch schlimmer als im ersten Kalten Krieg, denn damals gab es zumindest eine gewisse Vielfalt und Debatte. Ich habe das Frankreich von de Gaulle erwähnt, und in Westdeutschland gab es die Ostpolitik, die auf Veränderung durch Engagement setzte, und zwar schon in den frühen 1960er-Jahren. Was heute so schockierend ist, ist die Tatsache, dass es so wenige Stimmen der Opposition gibt. Stattdessen gibt es dieses endlose Trompeten der Einheit der atlantischen Mächte. Einigkeit ist nur dann eine gute Sache, wenn sie sich auf eine vernünftige Politik stützt, und nicht, wenn es sich um ein Sammelsurium falscher Analysen handelt, in der von der tapferen kleinen Ukraine die Rede ist, die sich Russland als revisionistische Macht entgegenstellt. Deutschland ist für seinen Umgang mit der Geschichte zu loben, aber es gibt nichts Gefährlicheres, als diesen auf eine andere historische Situation zu übertragen. Jede Idee, über Engagement zu sprechen – die klassische deutsche Politik – und sogar das Vorantreiben von Nord Stream 2 werden als «Beschwichtigung» Russlands be- und verurteilt.
Das ist ein völliges Missverständnis der heutigen Situation. Putin will kein sowjetisches Imperium wiedererstehen lassen. Unser Verteidigungsminister in Grossbritannien, Ben Wallace, sagte diese Woche, Putin sei ein Ethnonationalist. Das könnte nicht falscher sein: In Russland gibt es heute mindestens 150 grosse Nationalitäten. Putin hat den Ethnonationalismus immer wieder verurteilt: Er reisse das Land auseinander. Wenn westliche Politiker also die grundlegendsten Dinge falsch verstehen, werden sie auch die grossen geopolitischen Dinge falsch verstehen.
Meiner Meinung nach ist die gegenwärtige Situation also viel gefährlicher, weil es nur ein paar wenige mutige Menschen gibt, die sie verurteilen. Ich freue mich, dass sich das «Quincy Institute for Responsible Statecraft» entwickelt hat; es gibt ein paar Leute in den Vereinigten Staaten, allerdings schockierend wenige im Vereinigten Königreich – und ich denke, das Blatt hat sich auch in Deutschland gewendet, vor allem bei den Grünen, die nur Clintonsche liberale Interventionisten der schlimmsten Sorte sind: Falken des Kalten Krieges.
Die Lösung ist ganz einfach
Aussenpolitik sollte immer eine Balance zwischen Interessen und Werten sein. Wenn Russland einfach so einmarschieren und die ukrainische Demokratie unterdrücken wollte, wäre ich der Erste, der die Ukraine unterstützt. Aber das ist nicht das, worüber wir hier reden. Putins sogenannter Revisionismus ist nicht von der Art eines Adolf Hitler. Diese endlose, sogar implizite «reductio ad Hitlerum» [Zurückführung auf Hitler, Red.] ist in diesem Fall einfach Unsinn. Als Putin an die Macht kam, sagte er sogar, Russland werde der NATO beitreten. Die Elite und die Führer in Russland sind rational. Sie versuchen nicht, ein Imperium zu errichten. Sie sagen einfach: «Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Hört endlich auf uns.»
Die Lösung ist ganz einfach: Neutralität für die Ukraine. Niemand wird sie übernehmen. Putin hat das Minsk-II-Abkommen unterstützt, das einen Rahmen für die Rückgabe des Donbass an die ukrainische Souveränität darstellt. Was hat das mit dem Imperium zu tun? Heute leben im Donbass 2,5 Millionen Menschen, die ihre eigene Meinung haben. Putin hat zunächst mobil gemacht, weil die Ukraine auch 100’000 Soldaten an der Grenze hat, mit den türkischen Drohnenraketen, die ihre Wirksamkeit im zweiten Berg-Karabach-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im letzten Jahr bewiesen haben. In Moskau herrschte also echte Beunruhigung darüber, dass sie das tun könnten, was Kroatien in der «Operation Sturm» tat, als es die serbischen Enklaven Mitte der 1990er-Jahre angriff. Es ist eine komplizierte Situation, aber die Grundzüge sind ziemlich einfach und klar.
David Broder: Vorhin haben Sie diese Situation mit einer «Kubakrise in Zeitlupe» verglichen. In jenem Fall haben beide Seiten durch Deeskalation ihr Gesicht gewahrt. Ist das hier das wahrscheinliche Ergebnis: eine weitere Runde der Normandie-Gespräche oder der Minsker Vereinbarungen?
Richard Sakwa: Es gibt Gerüchte über ein neues Gipfeltreffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin, möglicherweise schon in der kommenden Woche, was ich sehr begrüsse. Und Verhandlungen sind bei all dem wichtig. Meiner Meinung nach steht es 50:50. Ich glaube, die Leute haben nicht verstanden, dass wir im Oktober 1962 Glück hatten, weil wir im Grunde genommen vernünftige Führer hatten, vor allem John F. Kennedy und Robert Kennedy, und Rückkanäle und so weiter. Ich glaube, dass es jetzt fast nichts von alledem gibt und dass wir näher an einem echten Konflikt sind. Der Westen und natürlich auch die Briten mischen sich ein und giessen Öl ins Feuer; die Deutschen auf der anderen Seite geben keine Überfluggenehmigung für britische Truppen und Ausrüstung, die in die Ukraine geflogen werden sollen.
Ich denke, es könnte in beide Richtungen gehen. Die Russen können sich jetzt nicht einfach zurückziehen, ohne etwas zu tun, und der Westen bietet fast nichts an. Immerhin engagieren sie sich, was schon mal gut ist. Sie machen einige kleinere Angebote – auch gut. Aber das geschieht nicht in dem erforderlichen Umfang. Die Russen sagen jetzt, dass wir zu der Gorbatschow-Agenda zurückkehren müssen, um eine europäische Friedensordnung zu schaffen.
Sie haben erwähnt, dass jedes Land seine Wahl treffen kann; aber die andere Hälfte der 1990 geschaffenen Friedensordnung war, dass die Sicherheit unteilbar ist. Die Russen sagen: «Leute, wo bleibt unsere Sicherheit? Man hat uns aussen vor gelassen.»
Jetzt sind wir dem Krieg näher gekommen. Ich glaube nicht, dass das eine Besetzung der Ukraine bedeutet. Wahrscheinlicher ist, dass es Artillerieangriffe aus grosser Entfernung, Luftangriffe usw. bedeutet, um zu versuchen, die ukrainischen Streitkräfte zu schwächen und den Westen zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen. Bislang haben sie nur so getan, als ob, aber es muss eine Art von Erklärung geben. Die Kuba-Krise wurde durch Zugeständnisse gelöst, damit beide Seiten ihr Gesicht wahren konnten. Heute brauchen wir nicht nur eine Gesichtswahrung, sondern substanzielle Schritte.
(Das Interview erschien auf der US-Plattform Jacobinmag.com. Die von Jacobin bewilligte Übersetzung ins Deutsche besorgte Christian Müller.)
NATO-General Stoltenberg – entlarvt als Ignorant oder Lügner
(cm) Ausgerechnet in der Ausgabe vor dem Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz publizierte das deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL einen Bericht über den Fund von Dokumenten im britischen Nationalarchiv aus dem Jahr 1991, aus denen unmissverständlich hervorgeht, dass damals zwischen Ost und West auf höchster diplomatischer Stufe Konsens herrschte, dass die NATO nicht nach Osten erweitert werden darf. Die Headline: Neuer Aktenfund stützt russischen Vorwurf.
Zitat aus dem SPIEGEL: «Vor einigen Wochen gab sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg überaus selbstsicher. Befragt vom SPIEGEL, ob Russland in den Neunzigerjahren zugesagt worden sei, die Nato nicht nach Osten auszudehnen, erklärte der Norweger entschieden: ‹Das stimmt einfach nicht, ein solches Versprechen wurde nie gemacht, es gab nie einen solchen Hinterzimmer-Deal. Das ist schlichtweg falsch.› Und weiter unten im Bericht des SPIEGEL: «Wie das Dokument belegt, stimmten Briten, Amerikaner, Deutsche und Franzosen jedoch überein, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer ‹inakzeptabel› sei.» (Das neu gefundene Dokument ist im SPIEGEL abgebildet.)
Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: Entweder hat der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg von der Geschichte der Jahre 1990/91 keine Ahnung, oder er hat schlicht gelogen.
Richard Sakwa
… ist Professor an der Universität Kent UK und hat sich auf die Politik Russlands sowie die der postsowjetischen Länder spezialisiert. Er ist Autor des Buches «Frontline Ukraine; Crisis in de Borderland». In einem Interview zum Thema des gegenwärtigen West-Ost-Konflikts erläutert er die komplexe politische Struktur der Ukraine und erklärt, warum der Westen dort die falsche Minorität unterstützt. Das Interview führte David Broder.
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