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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Traurige Nachrichten aus der Ukraine

Am 11. Februar hat sich das Europäische Parlament mit der Ukraine beschäftigt: Anlass für einen Zwischenbericht.

15. Februar 2021

von Christian Müller

Vor wenigen Tagen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einem eigenmächtigen Federstrich die drei privaten ukrainischen Fernsehstationen NewsOne, 112 und ZIK geschlossen, die politisch die Linie der Partei «Für das Leben» vertreten haben. Die Partei «Für das Leben» gehört in der Ukraine zur Opposition, sie ist im 450-köpfigen Parlament mit 44 Abgeordneten vertreten. Die englischsprachige Tageszeitung «Kyiv Post» begrüsste die Schliessung, da diese drei Sender russische Propaganda verbreitet hätten, wie sie schrieb. Immerhin publizierte sie auch kritische Stimmen. Matthew Schaaf etwa, der Leiter des ukrainischen Büros von «Freedom House», meinte: «Die Sperrung der ukrainischen TV-Kanäle durch Wolodymyr Selenskyj ist ein grosser Schritt. Es ist schwer zu sehen, wie dies mit internationalen Meinungsfreiheit-Standards, denen die Ukraine zugestimmt hat, übereinstimmen könnte. Der Schlüssel zur Beurteilung, ob die Sanktionen gegen Viktor Medwedtschuks TV-Sender den Menschenrechten genügen, ist davon abhängig, wie sie begründet werden. Bisher ist die offizielle Rechtfertigung mager.»

Die USA haben diesen ausserordentlichen Schritt des ukrainischen Präsidenten allerdings wenig überraschend ausdrücklich begrüsst. Die westlich orientierte Informations- (und Propaganda-)plattform RadioFreeEurope/RadioLiberty wusste dagegen zu berichten, dieser Schritt habe bei der EU in Bezug auf die Hochhaltung der Meinungsfreiheit und Medienvielfalt immerhin Stirnrunzeln verursacht.

Wie die ukrainische Medien-Szene im Alltag aussieht, hat mittlerweile sogar das Europäische Parlament erkannt. In seiner Resolution vom 11. Februar 2021 steht zu den ukrainischen Medien zum Beispiel unter Punkt 71: [Das EU-Parlament] «ist besorgt über das sich verschlechternde Arbeitsumfeld für Medienvertreter, wovon Investigativjournalisten betroffen sind, die über Korruptions- und Betrugsfälle berichten; [es] missbilligt Handlungen aller Art, die darauf abzielen, die Arbeit von Journalisten einzuschränken, wozu beispielsweise die Einschränkung des Zugangs zu Informationen, strafrechtliche Ermittlungen, Druck zur Preisgabe von Quellen und Hetze – insbesondere die Hetze gegen unabhängige Medien – zählen.» (Die ganze Resolution des EU-Parlamentes zur Ukraine vom 11. Februar kann hier nachgelesen werden.)

Der Grund, warum Staatspräsident Selenskyj die drei TV-Kanäle geschlossen hat, ist unschwer zu erraten. Selenskyj wurde im Mai 2019 als Hoffnungsträger mit 73 Prozent der abgegebenen Stimmen zum neuen Staatspräsidenten gewählt und seine Partei «Diener der Nation» hat im 450-köpfigen Parlament 245 Abgeordnete, 19 über dem absoluten Mehr. Selenskyj hatte versprochen, als erste Priorität den kriegerischen Konflikt im Donbass zu beenden. Dieser dauert nun schon fast sieben Jahre, bereits länger als der Zweite Weltkrieg gedauert hatte. Wirklich getan in dieser Sache hat Selenskyj allerdings kaum etwas (*). Aber auch sonst geht es den Ukrainern seither nicht besser, sondern vielen sogar schlechter. Entsprechend ist die Enttäuschung in der Bevölkerung. Gemäss den Resultaten der beiden Kiever Umfrage-Institute hat Selenskyjs Partei jetzt Anfang 2021 landesweit nicht einmal mehr 19 Prozent Zustimmung und damit sogar weniger als die Russland-freundliche Oppositionspartei «Für das Leben», deren Fernsehkanäle er jetzt geschlossen hat. In einem echt demokratischen Staat würde das zu Neuwahlen führen, in der Ukraine wird einfach weitergewurstelt.

Ukraine_Umfrage_Anfang_2021
Die Zustimmung der Bevölkerung zu den vier wichtigsten Parteien in der Ukraine im Januar 2021: «For Life» ist die russlandfreundliche Partei, deren TV-Kanäle geschlossen wurden. «Servant of the People» (auf Ukrainisch eigentlich «Diener der Nation») ist die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj. «European Solidarity» ist die Partei des vorherigen Präsidenten Petro Poroschenko. «Baktivshchyna» ist die Partei von Julija Timoschenko. © Kyiv Post

Die Ukraine ist jetzt ein NATO-Partner

Unter Punkt 20 derselben Resolution des Europäischen Parlamentes «würdigt» dieses «den einzigartigen Erfahrungsschatz und Sachverstand der Ukraine, begrüsst die Teilnahme der Ukraine an Missionen, Gefechtsverbänden und Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), ihre Beiträge zu EU-Gefechtsverbänden, ihre zunehmende Ausrichtung an den Feststellungen und Erklärungen der EU zu internationalen und regionalen Fragen sowie ihre Beiträge dazu und beglückwünscht die Ukraine zu ihrem neuen Status als Partnerstaat der NATO mit erweiterten Möglichkeiten.» Womit einmal mehr klar zum Ausdruck kommt, dass es der EU nicht darum geht, der Ukraine wirtschaftlich auf die Beine zu helfen – die Ukraine mit ihren über 40 Millionen Einwohnern ist mittlerweile das ärmste Land Europas –, sondern vor allem darum, militärisch Russland noch enger einzukreisen.

Ukrainisch und Englisch willkommen, Russisch verboten

Die konsequente Durchsetzung des neuen ukrainischen Sprachengesetzes wird immer absurder. Jetzt dürfen auch die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Läden und das Servierpersonal in den Restaurants selbst in den traditionell russischsprachigen Regionen im Süden und Osten der Ukraine die Kunden nur noch in ukrainischer Sprache bedienen, es sei denn, der Kunde verlange ausdrücklich, russisch sprechen zu dürfen. Eine clevere Methode, auch gleich feststellen zu können, wer immer noch an seiner russischen Muttersprache festhält und also zu wenig Kiev-untertänig ist. Umgekehrt wird in der Armee die englische Sprache intensiv gefördert. Jetzt wird auch bei den Armee-Veteranen die englische (NATO-bedingt die amerikanisch-englische) Sprache propagiert und gefördert. Auch hierzu hatte die «Kyiv Post» eine ans Herz gehende Geschichte. – Aus Sicht der mehrsprachigen Schweiz ist dies zwar alles ein Lacher, aber für die betroffenen Leute die nackte Tortur. Die eigene Muttersprache nicht mehr sprechen dürfen, und das vom eigenen Land so verordnet? Wo sind da die Rechte der Minderheiten?

Neofaschismus ist nicht mehr nur eine Randerscheinung

In fast allen grossen Städten der Welt gibt es Strassen, die den Namen anderer Städte tragen. In Paris etwa gibt es die «Rue de Milan», die «Rue de Londres», die «Rue de Constaninople» oder auch, man mag staunen, die «Rue de Saint-Pétersbourg» und die «Rue de Moscou». Auch in Kiev gab es die für die Stadt wichtige «Avenue Moskau». Diese aber wurde im Jahr 2016 umgetauft – ausgerechnet in «Avenue Stepan Bandera». Stepan Bandera war im Zweiten Weltkrieg ein Nazi-Kollaborateur und Judenschlächter, wird aber vor allem im Nordwesten der Ukraine als Held verehrt (Infosperber hat über solche Umbenennungen von Strassen berichtet, hier und hier). Nun hat das Verwaltungsgericht des Distrikts Kiev diese Umbenennung für illegal erklärt, aber der Stadtrat hat bereits Appellation gegen dieses Urteil angekündigt. Am 1. Januar 2021 wurde auch in Kiev der 112. Geburtstag von Stepan Bandera gefeiert, wie jedes Jahr mit Fackelzügen und Transparenten. Die «Kyiv Post» brachte dazu eine ganze Bilder-Serie: Hier anklicken und dann mit dem Cursor auf den Bildern unten auf NEXT klicken. Die westlichen Länder aber wollen diese Bilder nicht sehen und schauen weg. Nicht wegschauen tun verständlicherweise jüdische Publikationen. «Forward» hat eine umfangreiche Recherche unternommen und musste feststellen: «You’ll be shocked». In vielen osteuropäischen und auch in den beiden nordamerikanischen Ländern USA und Kanada sind neue Monumente zu Ehren Stepan Banderas und anderer Nazi-Grössen entstanden. Besonders auffallend ist der Trend gemäss «Forward» in der Ukraine. «Forward» hat dazu etliche Bilder veröffentlicht (hier anklicken). Da Selenskyj selber Jude ist, gibt es mittlerweile auch Befürchtungen, dass nach ihm der Antisemitismus erst recht zunimmt. Die Ukraine liegt geographisch zwischen den osteuropäischen Staaten der EU und Russland. Aber nur rund 24 Prozent seiner Landesgrenzen sind Grenzen zu den EU-Staaten Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien, die anderen 76 Prozent der Landesgrenzen sind Grenzen zu Russland, Weissrussland und Moldawien. Das Land wäre prädestiniert gewesen, als Brückenstaat zu funktionieren. Die EU hat die Ukraine aber schon vor 2014 vor das Ultimatum gestellt, sich zwischen Osten und Westen zu entscheiden. Der Entscheid fiel an der vom Westen unterstützten sogenannten «Revolution der Würde» auf dem Kiever Maidan, bei der es zum Putsch gegen den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch kam. Heute, bald sieben Jahre später, lebt das Land zu einem substanziellen Teil von jenen Ukrainern, die im Ausland leben und arbeiten und einen Teil ihres Lohnes als Rimessen in ihre Heimat zurückschicken. Eine traurige Geschichte.

(*) Leider hat der russische Botschafter in der Schweiz, Sergei Garmonin, in seinem Kommentar zum Konflikt im Donbass recht.

Dr. Christian Müller

war Chefredakteur und Redakteur diverser Schweizer Tages- und Wochenzeitungen. Er veröffentlichte zahlreiche Berichterstattungen, Kommentare und Kolumnen sowie Fotoreportagen aus Amerika (von Alaska bis Argentinien), Afrika, Australien/Neuseeland, China, u.a. Vom 1.1.2014 bis 31.12.2016 war er Chefredakteur der deutschen Viertelsjahreszeitschrift „Die Gazette“. Seit Anfang 2011 ist er Mitglied der Redaktionsleitung der Schweizer Informationsplattform Infosperber.ch.  

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