Bildquelle: Pixabay Image | Urheber: DavidRockDesign
Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer journalistischen Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien!
Venezuela: Warum informieren Medien nicht über das Völkerrecht?
Was sagt das Völkerrecht zum Wirtschaftsboykott, zur politischen Einmischung und zu den Drohkulissen gegen Maduro?
05. Februar 2019
von Urs P. Gasche
Völkerrechts-Professoren erklären, dass ein militärisches Eingreifen der USA gegen die UN-Charta verstossen würde. – Derweil freut sich Trumps Sicherheitsberater John R. Bolten bereits darauf, dass US-Ölkonzerne in Venezuela bald investieren und dort produzieren können.
Seit sich der venezolanische Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Interimspräsidenten erklärte, sind fast zwei Wochen verstrichen. Doch trotz der intensiven Berichterstattung liest und hört man wenig darüber, ob die verschiedenen Interventionen des Auslands das internationale Völkerrecht respektieren.
Nicht nur Regierungen, sondern auch viele Medien prangern Verletzungen des Völkerrechts sehr selektiv an. Die Gleichen, welche Russland wiederholt der «völkerrechtswidrigen Annexion der Krim» und der «völkerrechtswidrigen Einmischung in der Ostukraine» bezichtigen, halten sich in Sachen Völkerrecht auffällig still, wenn etwa die Türkei Grenzgebiete in Syrien militärisch besetzt und unter ihre Kontrolle bringt, oder wenn die USA in Syrien Militärbasen einrichten und unterhalten.
Das klassische Völkerrecht tauge eben wenig, sagen einige. Es sei veraltet und werde nicht von allen Ländern anerkannt. Wegen des Vetorechts sei der UN-Sicherheitsrat häufig handlungsunfähig und Verstösse gegen die UN-Charta würden nicht sanktioniert.
Doch insbesondere für Kleinstaaten wie die Schweiz ist es essentiell, dass unter den Staaten nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern dass internationale Normen, wie sie in der UN-Charta festgeschrieben sind, ein möglichst friedliches Nebeneinander fördern. Im Zentrum steht das in der UN-Charta verankerte Verbot der Gewaltanwendung. Dazu gehören auch einseitige Wirtschaftssanktionen. Werden jedoch solche von der UNO beschlossen, ist auch die Schweiz als UNO-Mitglied dazu verpflichtet, diese Sanktionen umzusetzen.
Das UNO-Verbot von Kriegen
Die Charta der UNO hat das Gewaltverbot in Artikel 2 verankert:
«Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede … Androhung oder Anwendung von Gewalt.»
Zu diesem Kriegsverbot sieht die Charta nur zwei Ausnahmen vor: 1. Das Recht auf Selbstverteidigung, wenn ein Land angegriffen wird. 2. Wenn der UN-Sicherheitsrat mit einem Mandat den Krieg gegen ein Land beschliesst. Dies kann der Sicherheitsrat auch dann tun, wenn eine Regierung die Bevölkerung im eigenen Land nicht schützt vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen oder schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit («Responsibility to Protect»)
Das zweite grundlegende UN-Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten bezweckt insbesondere, dass Grossmächte innere Unruhen oder selbst Bürgerkriege in Drittstaaten nicht dazu nutzen, sich einzumischen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Einmischungen in Venezuela
Die antikapitalistischen Regierungen von Hugo Chávez und Nicolás Maduro verspekulierten sich mit einem fallenden Ölpreis – 90 Prozent der Exporteinnahmen kommen von Ölexporten – und wirtschafteten das Land durch Klientelpolitik und Bereicherung des Machtklüngels herunter. Einseitige US-Sanktionen gaben der stark geschwächten Wirtschaft den Rest (Dokumentation von Ben Norton hier) und führten das Land in die Abhängigkeit Russlands. Weite Teile der Bevölkerung leiden unter einer verheerenden Hyperinflation. Sie führte zu leeren Geschäften, verbreiteter Armut und zur Auswanderung von zehn Prozent der 32 Millionen Einwohner.
Politisch trat insbesondere Maduro die demokratischen Institutionen mit Füssen. Der selbsternannte Präsident Juan Guaidó bezeichnete am 1. Februar in der «New York Times» die jüngste Wiederwahl von Maduro zum Präsidenten als illegal, und er bezifferte die Zahl der politischen Gefangenen mit 600.
Aus diesem «sozialistischen Gefängnis», das Unterdrückung, Armut und Misere beschert habe, müsse man das venezolanische Volk befreien, fordert etwa Publizistik-Leiter Pascal Hollenstein in der «Schweiz am Wochenende» und der «Ostschweiz am Sonntag».
Eine zentrale Frage und weitere Fragen
Hollenstein beantwortet jedoch eine zentrale Frage nicht: Wann ist es legitim oder sogar völkerrechtlich gefordert, dass die USA (oder Russland oder China) ein Drittland mit einem faktischen Wirtschaftsboykott ausbluten, Milliardenguthaben dieser Regierung bzw. dieses Staates im Ausland blockieren, Neuwahlen fordern, einen Oppositionellen als neuen Regierungschef anerkennen und ihm finanziell, logistisch und allenfalls auch militärisch zur Macht verhelfen?
Laut UN-Charta dürften die USA, Russland oder China gegen ein Land nur dann wirtschaftliche oder militärische Gewalt anwenden, wenn der Sicherheitsrat eine solche Intervention mit einer qualifizierten Mehrheit und ohne ein Veto eines der ständigen Mitglieder* beschliesst. Voraussetzung wäre, dass eine Regierung die Bevölkerung im eigenen Land nicht schützt vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen oder schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im Fall von Venezuela wird der Sicherheitsrat für eine ausländische Intervention kein grünes Licht geben, weil Russland und China einen solchen Beschluss mit einem Veto verhindern würden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die wirtschaftliche, soziale, politische und menschenrechtliche Lage in Venezuela einen solchen Beschluss des Sicherheitsrats überhaupt rechtfertigen würde.
Kam es zu einem Genozid? Zu Kriegsverbrechen? Zu ethnischen Säuberungen? Zu schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Ob wenigstens eine dieser Voraussetzungen für eine Einmischung der Grossmächte und des UN-Sicherheitsrats erfüllt ist, darüber sollten die Medien möglichst faktenbasiert informieren.
In seinem Leitartikel in der «New York Times» vom 1. Februar 2019 stützt sich der selbsternannte Präsident Juan Guaidó auf keine dieser Interventionsbedingungen. Was er geltend macht sind vielmehr Verletzungen der venezolanischen Verfassung («gesetzwidrige Wahl Präsident Maduros am 20. Mai 2018»), eine humanitäre Krise wegen mangelnder Lebensmittel und medizinischer Versorgung, den Exodus von drei Millionen Einwohnern sowie 600 politische Gefangene.
Dazu stellen sich weitere Fragen:
- Welche andere Länder könnten oder dürften die USA (oder auch Russland oder China) ebenfalls mit wirtschaftlichen Sanktionen unter Druck setzen? In welchen andern Ländern ebenfalls Oppositionsgruppen anerkennen und unterstützen? Wo könnten oder müssten sie ebenfalls eingreifen, um das wirtschaftliche und politische Schicksal der Bevölkerungen zu verbessern? Im Kongo nach dem jüngsten, krassen Wahlbetrug, in Ruanda, der Zentralafrikanischen Republik, Sambia, Zimbabwe, Nigeria, Bangladesch, Iran, Saudi-Arabien, Ägypten (mit rund 60’000 politischen Gefangenen, im Verhältnis zur Bevölkerung 30x mehr als in Venezuela)?
- Verstiessen die Grossmachts-Interventionen in Kosovo, Libyen, Afghanistan, Irak, Syrien, Krim, Ostukraine alle gegen das Völkerrecht und die UN-Charta?
- Welche Rolle spielten und spielen bei den Einmischungen in Libyen, Irak und Venezuela die grossen Erdölvorkommen?
- Aufgrund welcher völkerrechtlichen Rechtsgrundlage fordern EU-Staaten ultimativ, mit Drohung von Konsequenzen, Wahlen in einem fremden Land?
Zur letzten Frage: Venezuela hat den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ICCPR unterschrieben. Deshalb seien freie und faire Wahlen keine rein «innere» Angelegenheit mehr, sagt der Hamburger Völkerrechts-Professor Stefan Oeter. Vertragspartner müssten deshalb Präsident Maduro nicht als Präsidenten anerkennen.
Allerdings sieht der ICCPR eine solche Sanktion nicht vor, sondern vielmehr ein Staatenbeschwerdeverfahren. Der ICCPR hat nichts mit dem klassischen Völkerrecht und der UN-Charta zu tun.
Folgenschwere Anerkennung von Juan Guaidó als Präsidenten
Nur eine Stunde nachdem sich Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Präsidenten ernannte, anerkannten ihn die USA als einzig legitimen Präsidenten Venezuelas und forderten südamerikanische und europäische Staaten auf, das Gleiche zu tun.
Die Schweiz anerkennt laut EDA wie viele andere Staaten grundsätzlich keine Regierungen an, sondern nur Staaten. Regierungen können wechseln, ein Staat bleibt ein Staat.
Allerdings habe auch die Schweiz schon Regierungen aberkannt, obwohl diese die Herrschaft noch effektiv ausübten, aber ihre Legitimität verloren haben, wie zum Beispiel im Laufe der Nelkenrevolution 1974 in Portugal. Darauf macht der emeritierte St. Galler Völkerrechts-Professor Rainer J. Schweizer aufmerksam. Er meint deshalb, dass auch die Schweiz Guaidó bald als Präsidenten anerkennen könnte, sobald die Mehrheit der EU-Staaten dies gemacht haben.
Es erstaunt trotzdem, wie viele Medien die Anerkennung Guaidós als Präsidenten als etwas Normales darstellten. Die SRF-Tagesschau berichtete mehrmals, selbst das EU-Parlament habe Guaidó als Präsidenten anerkannt. Die Tagesschau erwähnte nicht, dass das Parlament juristisch gar keine Legitimation hat, Regierungen oder Staaten anzuerkennen. Es handelte sich um eine rein politische Resolution.
Immerhin befragte das «Echo der Zeit» als weit und breit einziges Medium einen Professor für Völkerrecht dazu. Oliver Diggelmann der Universität Zürich klärte auf, Staaten könnten «grundsätzlich» nur eine Regierung anerkennen, die «effektiv die Macht im Staat innehat».
Das Gleiche hatte Christine Kaufmann betont, bis Ende 2018 Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich: «Eine Regierung muss sich durchgesetzt haben», bevor man sie anerkennen könne.
In der Geschichte habe es jedoch schon Fälle gegeben, bei denen «Regierungen», die keine effektive Macht ausübten, anerkannt wurden, sagte Professor Diggelmann: In Haiti 1994, in Sierra Leone 1997, in Gambia 2017 sowie Libyen die Anerkennung von Aufständischen, als Ghadaffi noch an der Macht war.
Das Anerkennen beziehungsweise Nicht-Anerkennen von Regierungen werde «sehr selektiv» vorgenommen, räumte Stefan Oeter, Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg gegenüber Infosperber ein:
«In den meisten Fällen von unzweifelhaft effektiven Regierungen mit dubioser Legitimation vermeidet man es, Fragen der Legitimation zu stellen.»
Das Anerkennen von «Regierungen» oder «Präsidenten», welche keine effektive Macht im Land ausüben, kann allerdings einschneidende Folgen haben. Eine anerkannte Regierung könne nicht nur Zugriff auf Staatsgelder im Ausland erlangen, sondern auch das Eingreifen ausländischer Mächte autorisieren, erklärte Professor Oliver Diggelmann. Falls Guaidó die USA zu Hilfe rufe, könnten diese selbst ein militärisches Eingreifen völkerrechtlich mit dem Hilferuf legitimieren. [So wie Russland und Iran ihre Interventionen in Syrien mit dem Hilferuf Assads völkerrechtlich legitimieren.]
Diggelmann über das Anerkennen Guaidós als Interimspräsidenten:
«Es handelte sich um eine ausserordentlich aggressive Anerkennung. Der Gedanke, dass am Ende eine militärische Intervention der USA stehen könnte, scheint mir nicht aus der Luft gegriffen.»
Bis jetzt hat Guaidó nur Hilfslieferungen aus dem Ausland angefordert. Den Flüchtlingen und Hungernden in Venezuela und den Nachbarstaaten ohne Militäreinsatz diplomatisch und wirtschaftlich zu helfen, sei «angesichts des enormen Ausmasses der wirtschaftlichen Not und der Repression ein Gebot der völker- und menschenrechtlichen Schutzpflichten», erklärt Völkerrechts-Professor Rainer J. Schweizer.
Dagegen sei der Zugriff der USA auf die venezolanische Ölfirma und die Blockade des Ölverkaufs durch die USA als Druckmittel gegen die Regierung Maduro «wohl als völkerrechtlich unzulässige Intervention anzusehen».
Gleicher Ansicht ist der Hamburger Völkerrechts-Professor Stefan Oeter: «Gegenüber ‹illegitimen›, also durch Rechtsbruch ans Ruder gekommenen Regierungen, können im Grundsatz durchaus Wirtschaftssanktionen verhängt werden. Tabu ist dagegen der Einsatz militärischer Gewalt gegen derartige Regierungen; militärische Zwangsmassnahmen könnte allenfalls der UN-Sicherheitsrat anordnen.»
Voraussetzungen für einen solchen Beschuss des Sicherheitsrats wären Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen oder schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nur dann käme die «Responsibility to Protect» zum Zug.
«Kalte Krieger sind zurück»
In der «New York Times» meldete sich Geschichtsprofessor Patrick Iber der Wisconsin-Universität in Madison zu Wort: «Wie schlimm Maduro auch ist, die USA sind kein vertrauenswürdiger Partner, um einen ‹Regime Change› zu forcieren.» Im Laufe des 20. Jahrhunderts hätten sich die USA immer wieder in die inneren Angelegenheiten südamerikanischer Staaten eingemischt, weil sie Südamerika als ihr geopolitisches Hinterland betrachteten. Er erinnerte an Guatemala, Brasilien oder Chile. Dort hätten die USA Militärdiktatoren an die Macht gebracht und sich um das Schicksal der Bevölkerungen foutiert.*
Für Iber sind heute die «Kalten Krieger wieder zurück». Führende Köpfe der US-Politik gegenüber Venezuela seien John R. Bolton, ein glühender Befürworter des Kriegs in Irak. Am Fernsehen forderte Bolton Präsident Maduro auf, «sich an einen schönen, ruhigen Strand weit weg von Venezuela zurückzuziehen, sonst landet er am Strand von Guantanamo».
Im TV-Kanal «FoxBusiness» (ab Minute 5.58) erklärte Bolton: «Für die USA wäre es von grossem Vorteil, wenn US-Ölkonzerne in Venezuela investieren und produzieren könnten. Das wäre gut für die Bevölkerungen sowohl in Venezuela als auch in den USA.»
„We are in conversation with major American companies now,“ he said. „I think we’re trying to get to the same end result here. … It will make a big difference to the United States economically if we could have American oil companies really invest in and produce the oil capabilities in Venezuela.“
Als speziellen Beauftragten für die «Wiedereinführung der Demokratie in Venezuela» ernannte das Weisse Haus ausgerechnet Elliott Abrams, der während der Reagan-Administration Menschenrechtsverletzungen der USA in El Salvador rechtfertigte. Er setzte sich für Militärhilfe an Diktator Ríos Montt in Guatemala ein. Zur gleichen Zeit finanzierte er unter Umgehung des Weissen Hauses Waffenlieferungen an die Contra-Rebellen in Nicaragua. Wegen Belügen des Kongresses wurde er verurteilt. Abrams gehörte ebenfalls zu den vehementesten Verfechtern des US-Einmarsches in Irak.
Als Dritter gehört US-Staatssekretär Mike Pompeo zu den «Kalten Kriegern». Als früherer CIA-Direktor war er massgeblich für den Irak-Krieg verantwortlich. Erfolgreich setzte er sich für die Kündigung des Atomvertrags mit dem Iran ein.
——————————————————————————
*ursprünglich hiess es hier, es sei ein einstimmiger Beschluss des Sicherheitsrats notwendig.
Urs P. Gasche
… ist Redakteur bei der journalistischen Online-Zeitung Infosperber.ch. Der Infosperber konkurriert nicht mit großen Medienportalen, er ergänzt sie. Die Plattform hat sich als Ziel gesetzt, allein nach gesellschaftlicher oder politischer Relevanz zu gewichten. Der Infosperber sieht, was andere übersehen.
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!