Bildquelle: #171036775 | Urheber: joyfotoliakid

Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer journalistischen Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien!

Was Bullshit-Jobs mit Sadomasochismus zu tun haben

Vier von zehn Arbeitnehmern halten ihre Arbeit für wertlos. Das hat verheerende Folgen für die kollektive Psyche.

08. Oktober 2018

von Werner Vontobel

Vor bald 90 Jahren hat Lord Meynard Keynes prophezeit, seine Enkel müssten nur noch 15 Stunden arbeiten. Jetzt fragt man sich, warum sich selbst seine Urenkel noch zu Tode arbeiten. Am technologischen Fortschritt kann es nicht liegen. Der hat Keynes‘ Erwartungen weit übertroffen. Keynes selbst hatte eine Vorahnung. Er sei zwar sicher, dass es uns gelingen werde, den Reichtum zu geniessen, aber: «Für lange Zeiten wird der alte Adam in uns noch so mächtig sein, dass jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, um zufrieden sein zu können.» Jetzt wissen wir: Der alte Adam war stärker. Moderne Ökonomen haben diesen Adam – die menschliche Natur – nicht mehr auf dem Bildschirm. Deshalb müssen wir uns heute von einem Anthropologen namens David Gräber erklären lassen, warum wir Urenkel ein in Anbetracht der technologischen Möglichkeiten suboptimales, wenn nicht «beschissenes» Leben führen.

Kurz zusammengefasst sagt Gräber dies: Die Kombination von Arbeitsdrang (alter Adam) und technologischem Fortschritt hat dazu geführt, dass wir heute nicht mehr in einer Marktwirtschaft (wie Keynes sie sich vorstellte) leben, sondern in den Feudalismus zurückgefallen sind. Im Feudalismus organisiert eine Minderheit die Arbeit der Massen und schöpft deren Mehrwert ab. Die neue Oberschicht sind die Finanzmärkte und die von ihnen eingesetzten Topmanager bzw. Spezialisten. Diese Feudalherren demonstrieren ihre Macht, indem sie möglichst viel Personal halten – auch wenn sie deren Arbeit gar nicht wirklich brauchen.

40 Prozent der Arbeitnehmenden empfinden ihre Arbeit als wertlos

Und damit sind wir beim «beschissenen» Teil dieser These. Fast 40 Prozent der Arbeitnehmer, so Gräber, empfinden ihre Arbeit als wertlos. Das nennt er Bullshit-Jobs. Das betreffe auch gut bezahlte Arbeit in der Werbung, der Administration oder bei Banken. Weitere gut 20 Prozent der Beschäftigten sehen zwar den Sinn ihrer Arbeit ein, leiden aber unter der Monotonie, der Unselbständigkeit und der miesen Bezahlung ihrer Arbeit. Dazu gehören etwa Jobs in der Paketzustellung oder in Warenlagern bei Zalando oder Amazon.

Woher nimmt Gräber diese Zahlen? Er hat 2013 einen kurzen Aufsatz zum Thema Bullshit-Jobs geschrieben, der sofort ein weltweites Echo auslöste. Meinungsforscher nahmen das Thema auf, und auch Gräber fing an, Zuschriften systematisch einzuordnen und Interviews zu führen. Daraus ist eine kleine Wissenschaft entstanden. Die erwähnten Grössenordnungen scheinen solide. Nach einer Umfrage von 20 Minuten langweilen sich 36 Prozent aller Schweizer Arbeitnehmer jeden Tag. Nur jeder Dritte meint: «Nein, ich habe einen spannenden Job.»

Glaubt man Gräber, hat das Füllhorn des technologischen Fortschritts im wahrsten Sinn «perverse» Folgen. Die meisten Menschen glaubten, sie müssten ihren Wohlstand dadurch verdienen, dass sie sich mit sinnloser Arbeit selbst bestrafen. In der Arbeitswelt herrschten deshalb oft sadomasochistische Beziehungen. Wer weiss, dass ein Job eigentlich überflüssig ist, habe Angst, ihn zu verlieren und lasse sich vom Vorgesetzten viel zu viel bieten, was diese ihrerseits gerne ausnützten. Daraus entstehe auch ein kollektiver Neid auf alle, die noch eine sinnvolle Arbeit machen dürften. Das erkläre die tiefen Löhne von Reinigern, Pflegern, Bauern, Verkaufspersonal und (in den USA) von Lehrern.

Bleibt die Frage, warum der Wettbewerb nicht alle die Firmen, die überflüssiges Personal bezahlen, pleite gehen lässt? Wer an die Lehrbuch-Ökonomie glaubt, wird dies für ein tödliches Argument gegen Gräbers Thesen halten. In der Tat gibt es noch viele Branchen, in denen der Markt Bullshit-Jobs nicht zulässt. Das gilt vor allem für die Landwirtschaft und für die eigentliche Produktion von Gütern, welche die wichtigsten materiellen Bedürfnisse befriedigen. Hier gibt es noch harte Konkurrenz. Laut Adair Turner, dem Chef des Institute for new Economic Thinking, beschäftigt die eigentliche Produktion in den entwickelten Volkswirtschaften typischerweise nur noch 12 Prozent der Arbeitnehmer. Diese arbeiten in der Regel hart und nicht selten unter dem Existenzminimum und ermöglichen so Megagewinne der Schokolade-Branchen, in denen der Wettbewerb weitgehend ausgeschaltet ist.

Nullsummen-Wettbewerbe

Turner spricht aber nicht von Bullshit-Jobs, sondern erklärt die anhaltend hohe Beschäftigung der Enkel mit der starken Zunahme von Nullsummen-Wettbewerben. Er bringt das Beispiel einer neuen Schuhfabrik von Adidas in Bayern, in der 160 Arbeiter pro Jahr 500’000 Schuhe produzieren, fünfmal mehr als bisher möglich war. Wenn wir immer mehr Arbeit wegrationalisieren, meint er, gäbe es nur zwei Möglichkeiten: «Die eine ist eine dramatische Zunahme von Freizeit und Musse, die andere wäre, dass wir immer mehr Arbeit mit Nullsummen-Wettbewerben totschlagen. So wie wir die menschliche Natur kennen, ist die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere.» Diese «menschliche Natur» schlägt sich übrigens auch in einem Kommentar von Mathias Binswanger in der NZZ durch: «Die Rationalität moderner Wirtschaften liegt gerade darin, dass sie auch Jobs generiert, die nach herkömmlicher Betrachtung wenig Sinn ergeben. Nur auf diese Weise lässt sich Vollbeschäftigung bei zunehmender Automatisierung und Digitalisierung weiterhin aufrechterhalten.» Bezahlte Arbeit ist offensichtlich zum Selbstzweck geworden und dient vorab der Vermeidung von Musse.

Unter Nullsummen-Aktivitäten versteht Turner unter anderem die Arbeit von Juristen, Börsenhändlern, Vermögensverwalter, Werber etc. Sogar Lehrer können in diese Kategorie fallen, etwa dann, wenn die Diplome, auf die sie ihre Schüler vorbereiten, bloss dazu dienen, andere Job-Bewerber zu verdrängen. Als Beleg für seine These dient Turner diese Studie, wonach in den USA 35,6 Prozent aller Arbeitskräfte im Management, in der Administration und in den Finanz- sowie Unternehmensdienstleistungen tätig sind und dort 54 Prozent der nationalen Wertschöpfung kassieren. Die Autoren dieser Studie schätzen, die USA könnten denselben Output mit 15 Prozent weniger Beschäftigten erreichen. Daraus wiederum schliessen sie, das US-BIP könnte um 3000 Milliarden Dollar gesteigert werden, wenn diese 15 Prozent stattdessen «mit wertschöpfenden Tätigkeiten beschäftigt werden». Was damit konkret gemeint sein soll, verraten uns die Autoren nicht.

Eine andere mögliche Erklärung für Keynes‘ Irrtum habe ich hier vorgeschlagen. Danach sind Keynes Enkel immer mehr damit beschäftigt, die zunehmende Komplexität des Marktes zu bewältigen, statt ihre Bedürfnisse zu decken. Während wir im uralten System der Selbstversorgung arbeiten, um unsere eigenen Bedürfnisse bzw. die der Familie, Nachbarschaft, Sippe etc. zu befriedigen, müssen wir im Marktmodus erst die Bedürfnisse Fremder erkennen, wecken und befriedigen, um dann einen Tauschhandel zu betreiben, der grosse Distanzen überwinden muss und einen Finanzsektor, Werbeindustrie, Juristen, Handelsgerichte etc. benötigt. Zudem haben wir Enkel und Urenkel verlernt, zwischen Aufwand und Ertrag zu unterscheiden. Wir addieren alle bezahlten Aktivitäten einfach zum BIP. Dieses ist nicht deshalb wichtig, weil es Wohlstand, sondern weil es Beschäftigung schafft.

Liebe zum Geld statt zu den wirklichen Freuden des Lebens

Diese Erklärungsversuche müssen sich nicht gegenseitig ausschliessen, sondern sind bloss unterschiedliche Facetten desselben psychologischen Phänomens: Wir Menschen neigen zur Arbeitswut bzw. Raffgier und haben offenbar Mühe damit, gut zu leben. Turner schiebt das Problem auf die «menschliche Natur, so wie wir sie kennen». Gräber ist etwas differenzierter und diagnostiziert «sadomasochistische Störungen» sowie einen Rückfall in den Feudalismus. Und auch Keynes hat bei allem Optimismus geahnt, dass uns unsere menschlichen Unzulänglichkeiten einen Strich durch seine 15-Stunden-Rechnung machen könnten.

Im erwähnten Brief an die Enkel schrieb Keynes: «Wir sollten imstande sein, uns von vielen der pseudomoralischen Grundsätze zu befreien, mit denen wir einige der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften zu höchsten Tugenden gesteigert haben. (….) Die Liebe zum Geld statt zu den wirklichen Freuden des Lebens wird als das erkannt werden, was sie ist: ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halb-kriminellen, halb-pathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt.»

Keynes‘ Enkel waren dazu nicht imstande, aber immerhin dämmert es seinen Urenkeln, dass man die Wirtschaft inzwischen den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlassen sollte.

Werner Vontobel

… ist Wirtschaftswissenschaftler, Journalist und Publizist. 1998 übte Vontobel in seiner Monographie „Die Wohlstandsmaschine. Das Desaster des Neoliberalismus“ Kritik am Neoliberalismus. 16 Jahre später publizierte Vontobel gemeinsam mit Philipp Löpfe eine weitere kritische Abrechnung mit dem neoliberalen Wirtschaftssystem unter dem Titel „Wirtschaft boomt. Gesellschaft kaputt. Eine Abrechnung.“ Einer der Hauptkritikpunkte Vontobels an unserem Wirtschaftssystem ist die Beschädigung des wichtigsten Kapitals der Menschheit: „Nämlich die Fähigkeit, die Gesellschaft so zu organisieren, dass möglichst viele gut in ihr leben können.“

 

© der-demokratieblog.de | Dr. Elmar Widder