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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.
Weiterhin Reserveantibiotika für Tiere in der EU
Das EU-Parlament hat am 16. September eine weitgehende Einschränkung von Reserveantibiotika für Tiere abgelehnt. Vorerst.
30. September 2020
von Daniela Gschweng
Humanmediziner und Umweltverbände äusserten sich enttäuscht bis entsetzt, Tierhalter und Tierärzte erleichtert: Am 16. September hat das EU-Parlament ein weitgehendes Verbot der für Menschen wichtigsten Antibiotika in der Tierhaltung abgelehnt. Am Ende könnte diese Entscheidung aber nur ein Aufschub sein.
Dagegen gestimmt hatten vor allem die bürgerlichen Parteien. Der Abstimmung vorausgegangen war ein harscher Abstimmungskampf um die Vorlage des Grünen-Abgeordneten Martin Häusling. Diese sah vor, vor allem die Nutzung sogenannter Reserveantibiotika bei Nutztieren einzuschränken. Fünf Antibiotikagruppen sollten Menschen vorbehalten sein und nur in Ausnahmefällen an einzelne kranke Tiere verabreicht werden dürfen.
Veterinärmediziner mobilisierten Haustierhalter – mit falschen Argumenten
Dem Verband der Veterinärmediziner war das zu viel Einschränkung. Er startete eine Unterschriftenkampagne und griff den agrarpolitischen Sprecher der Grünenfraktion auch persönlich an. Die Gruppenbehandlung von Tieren sei nicht zu ersetzen, argumentierte er. Falls die Vorlage durchkommen sollte, wäre auch die Behandlung von Haustieren gefährdet.
Davon war in Häuslings Vorlage zwar keine Rede, etliche Haustierhalter sprangen jedoch auf. Häusling bekam Drohbriefe der Art «Wenn meine Katze stirbt, stirbst auch du.» Alle Versicherungen der EU-Grünenfraktion, dass Einzelbehandlungen weiter möglich sein würden, halfen nichts.
Reserveantibiotika retten Leben
Reserveantibiotika wirken auch gegen Keime, die gegen handelsübliche Medikamente resistent sind – und sie sind deshalb lebenswichtig. Humanmediziner und Umweltverbände weltweit fordern schon länger, sie so selten wie möglich und ausschliesslich bei Menschen einzusetzen.
In der Realität werden die kritischen Medikamente breit verwendet, vor allem in der Geflügel- und Schweinemast. Oft werden ganze Ställe mit Antibiotika behandelt, auch vorbeugend, damit sich die Tiere in der beengten Massentierhaltung nicht gegenseitig anstecken. Vor allem diese Gruppenbehandlung sollte mit Häuslings Vorschlag beendet werden. Unempfindliche Erreger bilden sich vor allem dann, wenn einzelne Tiere zu wenig Wirkstoff bekommen oder kleine Mengen des Antibiotikums im Umfeld bleiben, etwa in den Wasserleitungen.
Geflügelfleisch oft mit resistenten Keimen verseucht
Demgegenüber sterben in der EU jedes Jahr mehr als 30‘000 Menschen an einer Infektion mit resistenten Bakterien. Die Schweiz verzeichnet jährlich etwa 300 Todesfälle. Immer wieder werden die kritischen Keime in Lebensmitteln entdeckt. So fand «Ökotest» 2020 resistente Bakterien auf deutschen Discounter-Hähnchen, die «Stiftung Warentest» untersuchte kurz darauf 15 Pouletkeulen und titelte im März 2021 «nur jeder dritte Hähnchenschenkel ist gut». Auch in Schweizer Poulets fanden sich wiederholt resistente Keime.
«Sehenden Auges steuert Europa auf Zeiten zu, in denen es keine lebensrettenden Reserveantibiotika mehr gibt», verdeutlichte es Klaus Reinhardt, der Präsident der deutschen Ärztekammer, gegenüber der dpa. Prognosen, wie sich die Verbreitung resistenter Bakterien weiterentwickeln könnte, sind eher düster (Infosperber berichtete in mehreren Artikeln).
Kein fiktives Zukunftsszenario
Praktisch könnte eine Infektion so aussehen: Sie haben sich am Fuss verletzt. Woran genau, wissen Sie nicht, Sie waren draussen, mit dem Hund oder mit den Kindern. Nur eine Schramme, die nach ein paar Tagen wieder verheilen müsste. Das tut sie nicht. Sie suchen einen Arzt auf, weil der Fuss gar nicht gut aussieht. Dieser behandelt die Wunde und gibt Ihnen ein Antibiotikum. Die Infektion wird dennoch schlimmer. Der Arzt oder die Ärztin weisen Sie in ein Spital ein. Dort wird festgestellt, dass Sie mit einem multiresistenten Keim infiziert sind. Mittlerweile geht es Ihnen entsprechend schlecht. Nun hilft nur noch ein Reserveantibiotikum. Schlägt dieses nicht an, könnten sie den Fuss verlieren. Wäre die Infektion an anderer Stelle, zum Beispiel in der Lunge, müssten Sie bereits um ihr Leben bangen.
Hinter dem Widerstand stehen starke Lobbys
Das ist kein fiktives Zukunftsszenario, Fälle wie diesen gibt es regelmässig. Die Einschränkung von Antibiotika in der Tiermast ist deshalb dringend. Weltweit werden laut Häusling 66 Prozent aller Antibiotika bei Nutztieren verwendet. Der grösste Teil der bei Tieren in der EU verwendeten Antibiotika (90 Prozent) ist für Gruppenbehandlungen bestimmt. In der Schweiz entfällt jeder zweite Franken, den Veterinärmediziner umsetzen, auf Antibiotika. Der Widerstand der Tiermediziner gegen Einschränkungen hat also vor allem auch wirtschaftlichen Hintergrund.
Wie hart um den Antibiotikaeinsatz gekämpft wird, zeigt der mögliche weitere Verlauf der Auseinandersetzung. Die EU-Kommission plante nämlich gar nicht, alles so weiterlaufen zu lassen wie bisher. Noch immer liegt ihr ein Entwurf dazu vor, wie die Verwendung von Reserveantibiotika bei Tieren eingeschränkt werden soll.
Am Ende steht womöglich ein Komplettverbot
Dazu müsste sie Antibiotikaklassen benennen, die als Reserveantibiotika festgelegt werden. Bisher gibt es keine konkrete Liste. Unter anderem dagegen hatte Häusling im Umweltausschuss sein Veto eingelegt. Das Gesetz enthalte zu viele Schlupflöcher, fand er. Nach seinem Alternativvorschlag wäre die Behandlung einzelner Tiere weiter möglich gewesen, die Gruppenbehandlung ganzer Ställe nicht.
Bis Ende Januar 2022 muss die EU-Kommission nun klarstellen, welche Antibiotika auf die EU-Liste der Reserveantibiotika kommen, die dann wirklich nur noch für Menschen erlaubt sein werden. So gesehen handelt es sich für die Veterinäre nur um einen Aufschub. Am Ende könnte es dazu kommen, dass mindestens vier Antibiotikaklassen für Tiere komplett verboten werden, ohne Ausnahmen für die Behandlung einzelner Tiere.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Daniela Gschweng
… ist freie Journalistin und schreibt mitunter für den Infosperber, die TagesWoche und die Badische Zeitung.
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